Zum Tag der Arbeit Nicht weniger, aber anders

Die Fesseln der starren Arbeitswelt sind gesprengt. Doch statt des großen Freiheitsgefühls macht sich bei den Menschen Nervosität breit. Arbeitsmarkt-Experte Klaus F. Zimmermann und sein Blick auf die Zukunft der Arbeit.

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Szene aus dem Charlie-Chaplin-Film „Moderne Zeiten“. Quelle: Getty Images

Es ist ein alter Menschheitstraum, die Fesseln der starren Arbeitswelt zu sprengen und freier zu werden. Im Unterschied zu früheren Zeiten bieten sich heute viel größere Möglichkeiten, Arbeit und private Zeit flexibel in Einklang zu bringen und diesen Traum zu verwirklichen. Doch statt des großen Freiheitsgefühls macht sich in der Bevölkerung erhebliche Nervosität breit: Geht uns die Arbeit aus? Ist mein Job noch sicher?

Diese Ängste gibt es überall, nicht nur in den großen Industrienationen. Ein klares Zeichen für den profunden Wandel, den wir erleben, ist die Tatsache, dass jetzt sogar die Chinesen massiv auf den Einsatz von Industrierobotern setzen. Denn auch das chinesische Arbeitskräftepotenzial – lange das Schreckgespenst der westlichen Welt, die sich vor der Verlagerung von Fertigungsjobs nach China fürchtete – hat seinen Zenit erreicht. Dass sogar das bevölkerungsreichste Land der Erde die Automatisierung für sich entdeckt, belegt, vor welch tiefgreifendem Wandel wir stehen.

Doch der Arbeitsmarktdruck ist fast überall zu spüren. In Indien, das schon bald China als bevölkerungsreichste Nation ablösen wird, müssen jedes Jahr mehr als zehn Millionen neue Arbeitsplätze entstehen, um Berufseinsteiger in Lohn und Brot zu bringen. Und Hochschulabsolventen stellen rund um den Globus fest, dass ein akademischer Titel keine Jobgarantie mehr ist. Wir leben in einer Zeit, in der ganze Tätigkeitsprofile fernab der Industrieproduktion zur Disposition stehen. Intelligente Maschinen ersetzen längst nicht mehr nur Fließbandarbeitsplätze. Roboter und Computer setzen eine Vielzahl von etablierten Berufsbildern unter Druck – von Piloten und Lkw-Fahrern über Ärzte bis hin zu Köchen.

Bislang deutete die wissenschaftliche Forschung nur auf mögliche negative Beschäftigungseffekte für Arbeitskräfte mit geringem bis mittlerem Qualifikationsniveau hin. Nun aber prognostizieren Forscher der Universität Oxford, dass in 20 Jahren jeder zweite Arbeitsplatz von der Automatisierung betroffen sein könnte, darunter auch viele Berufe mit hohen formalen Qualifikationen. Diese Analysen müssen aufmerksam geprüft und verfolgt werden, um der Politik rechtzeitig geeignete Handlungsalternativen aufzeigen zu können.

Zwar lässt sich die Zukunft auch weiterhin nicht sicher vorhersagen. Fest steht aber, dass die lebenslange Beschäftigung beim selben Unternehmen und selbst formale Arbeitsverträge in den entwickelten Nationen seltener werden und ihre dominante Rolle verlieren. Das etablierte Normalarbeitsverhältnis, ohnehin nur ein Kind der ökonomisch so erfolgreichen sechziger Jahre, wird schon heute von vielen Varianten herausgefordert.


Weniger Hierarchie, mehr Flexibilität

Alle Rahmenbedingungen deuten darauf hin, dass seine Bedeutung erheblich zurückgehen wird. Stattdessen nehmen informelle Formen der Beschäftigung – lange Zeit das Kennzeichen von Entwicklungsländern – auch in der entwickelten Welt zu. In dieser Hinsicht gibt es also eine Angleichung der Herausforderungen auf globaler Ebene.

Eine Zukunft, die durch weniger formelle Arbeitsverhältnisse gekennzeichnet ist, stellt freilich eine gesellschaftliche Errungenschaft infrage, die viele Menschen in den reichen Ländern längst als selbstverständlich betrachten – und die von vielen Menschen in Entwicklungsländern angestrebt wird: die solide soziale Absicherung durch permanente „normale“ Arbeit.

Immer mehr ehemals unternehmerische Risiken werden nun auf die arbeitenden oder konsumierenden Individuen übertragen. Für die meisten Gesellschaften, gerade in den Entwicklungsländern, ist dieser Trend nicht neu. In weiten Teilen der Welt sind Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherungssysteme bislang kaum bekannt oder zumindest sehr unterentwickelt.

Dagegen sind viele alte Industrieländer nur schlecht auf eine Welt mit erhöhter Eigenverantwortung und individueller Risikobereitschaft vorbereitet. Während etwa das Sozialmodell der USA seit jeher primär auf die individuelle Übernahme finanzieller und wirtschaftlicher Risiken gegründet ist, gilt für Europa das Gegenteil. Risikoübernahme ist dort Bestandteil des Verständnisses von Freiheit. Trotz aller Nachteile des amerikanischen Modells: Den Europäern wird ein Umdenken deutlich schwerer fallen. Sie sind es gewohnt, dass die Gesellschaft als Ganzes existenzielle Risiken absichert. Nun müssen aber die Systeme angepasst oder aufgegeben werden.

Die „New Economy“ erfüllt den Menschen auf der einen Seite ihren Wunsch nach weniger Hierarchie, mehr Flexibilität und stärkerer Zielorientierung. Mehr Möglichkeiten zum unternehmerischen, eigenverantwortlichen Handeln am Arbeitsplatz und Vergütungsmodelle, die Leistung honorieren statt Präsenz, sind auf dem Vormarsch. Aber dieser Zugewinn an Flexibilität hat auch seinen Preis. Die zentrale Herausforderung besteht darin sicherzustellen, dass die „schöne neue Welt“ der Arbeit nicht zu einer zu weitgehenden Risikoverlagerung von Unternehmen (und Kapital) zum Individuum führt.

Was wir als Arbeitsökonomen bisher absehen können: Die Arbeit wird nicht weniger. Digitalisierung und Automatisierung sind keine Jobkiller. Doch die Arbeit der Zukunft wird Formen annehmen, die sich substanziell von dem unterscheiden, was die Menschen in den Industrieländern seit rund einem Jahrhundert gewohnt sind.

Es müssen daher innovative Lösungen gefunden werden, um insbesondere die soziale Sicherung zukunftsfest zu machen. So müssen etwa Sozialversicherungsansprüche und betriebliche Versorgungsregeln von einer langjährigen Beschäftigung im selben Unternehmen entkoppelt werden und auch länderübergreifend gelten. Beschäftigte sollten keine Ansprüche einbüßen, ganz gleich, welche Erwerbsbiografie sie verfolgen. Zugleich muss die private Altersvorsorge gegen extreme Schwankungen der Finanzmärkte geschützt werden.


Unvorstellbare Chancen

Die Arbeitswelt der Zukunft ist von einer beträchtlichen Dialektik geprägt: Einerseits verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und privaten Aktivitäten. Andererseits heißt das aber auch, dass wir unsere Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes mit nach Hause tragen. Der klassische Arbeitstag ist ein Auslaufmodell. Das kommt vielen Menschen, etwa berufstätigen Eltern, entgegen, die diese neu gewonnene Flexibilität zu schätzen wissen.

Der Trend zu flexibleren Arbeitsmustern schafft aber auch neue Herausforderungen. Flexibles Arbeiten kann zu unberechenbar sein, um andere Tätigkeiten verlässlich planen zu können – sei es der Zweitjob oder ein langfristig zu vereinbarender Arzttermin. Für manch einen kann die Verwischung der Trennlinie zwischen Arbeit und Freizeit auch mit erheblichen Belastungen verbunden sein. Während viele Amerikaner die Herausforderung einer modernen Work-Life-Balance seit Jahrzehnten kennen, ist in Ländern mit traditionell strikt geregelten Arbeitszeiten ein Schock so gut wie programmiert.

Die positiven und negativen Aspekte der sich wandelnden Arbeitswelt müssen sorgfältig und intelligent ausgeglichen werden. Diese Aufgabe sollten wir mit Zuversicht angehen. Schließlich hat die Welt schon sehr tiefgreifende Veränderungen und die damit verbundenen sozialen Spannungen und Verwerfungen erfolgreich bewältigt. Man denke rund 125 Jahre zurück, als Politiker und Intellektuelle gleichermaßen gegen die Industrialisierung, Mechanisierung und Elektrifizierung als vermeintliche Katastrophe für die Gesellschaft wetterten.

Die großen Umwälzungen vergangener Epochen, allen voran Urbanisierung und Landflucht, haben die Welt tatsächlich erschüttert. Aber das Ergebnis waren ein dramatisch verbesserter Lebensstandard und größerer Wohlstand. Die Gesellschaft passte sich an die „neue Normalität“ an, und die Lebensbedingungen verbesserten sich für Millionen von Menschen, die zuvor in bitterer Armut lebten.

Die bevorstehenden Veränderungen bieten uns neben vielen Herausforderungen auch unvorstellbare Chancen. Um sie zu ergreifen, müssen die Entwicklungsländer ihre Transformation konsequent fortführen und dabei unsere Unterstützung erhalten, während sich die großen Volkswirtschaften Europas und Nordamerikas an die veränderten Gegebenheiten anpassen müssen. Längst sind die Wirtschaftsprozesse weltweit so engmaschig vernetzt, dass wir alle voneinander abhängig sind.

Was die Gestaltung der Arbeitswelt der Zukunft angeht, sitzen wir fortan im sprichwörtlichen gemeinsamen Boot.

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