Zwischenbilanz Merkel schleicht profillos ihrem Ende entgegen

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Angela Merkel präsentiert den Quelle: REUTERS

Solche Weichenstellungen hatten sich lange, manchmal über Jahre hinweg angebahnt. Nach der japanischen Katastrophe benötigte die Kanzlerin gerade mal ein Wochenende, um zu erkennen, dass die atompolitische Beschlusslage nicht mehr zu halten war. Natürlich hat die Angst vor einem Wahldesaster in Baden-Württemberg Merkels Entscheidung beschleunigt. Umso heftiger wurde das bestritten. Dass sich nach Fukushima einfach nicht mehr gegen die Mehrheit regieren ließ, hat Angela Merkel blitzartig erkannt und umgesetzt. Nur gesagt hat sie es nicht.

Ganz anders verhielt sich in den siebziger Jahren der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht, als er die Pläne für eine atomare Wiederaufbereitungsanlage ad acta legte. "Politisch nicht durchsetzbar", lautete damals die schlicht zutreffende Begründung. Sie wurde legendär. Manchmal ist gerade das offene Eingeständnis einer Niederlage oder die unumwundene Begründung einer Kurskorrektur ein Zeichen von Stärke.

Angela Merkel hingegen hält sich an die klassische Lehre, nach der man Fehlentscheidungen und Niederlagen lieber dementiert oder verschleiert. Das ahnte wohl auch der CDU-Funktionär, der kürzlich in einer Aussprache zur Atompolitik seiner Vorsitzenden empfahl: "Wir müssen sagen, dass wir einen Fehler gemacht haben." Doch Merkel war anderer Meinung: "Ich kann nicht sagen, es war ein Fehler." Sie habe aus Überzeugung für die Laufzeitverlängerung entschieden. Die Wende werde sie "immer mit Fukushima begründen".

Die Kanzlerin will sich nicht geirrt haben

Die Kanzlerin will sich nicht geirrt haben, sie will vor der Katastrophe verantwortlich und richtig gehandelt haben und danach eben auch. Statt eine Zäsur zu setzen, die Fehlentscheidung einzuräumen und damit die Basis für neue Glaubwürdigkeit zu legen, versucht Merkel beharrlich, die Unzulänglichkeit ihrer früheren Entscheidung zu verschleiern. Sie gibt dem Reflex nach, keine Schwäche zu zeigen. Aber gerade das wirkt schwach.

Nur auf Parteitagen pflegt Merkel hin und wieder das Heroisch-Erhabene: "Nicht der Zeitgeist prägt die Politik der CDU, sondern die CDU prägt den Zeitgeist", verkündete sie als frischgebackene Oppositionsführerin im Herbst 2002. Seither hat sie unzählige Male daran erinnert, wie die zentralen Weichenstellungen der Bundesrepublik von der Union stets gegen die Mehrheitsstimmung durchgesetzt werden mussten. Immerhin, bei der atompolitischen Kurskorrektur folgt sie am Ende dem Wunsch der Mehrheit. Es ist nicht das erste Mal. Auch im Jahr 2005 sorgte das deprimierende Ergebnis bei der Bundestagswahl für Merkels Abkehr vom liberalen Reformkurs. In der Griechenlandkrise spielte sie anfangs mit dem Boulevard über Bande und bediente mit ihren harschen Sparparolen an den Süden euroskeptische Vorbehalte hierzulande. Auch in der Frage militärischer Interventionen dürfte die pazifistische Unterströmung der Deutschen inzwischen sogar die Kanzlerin erreicht haben. Jedenfalls lässt sich die Libyen-Entscheidung so interpretieren. Doch auch in diesem Falle sind die Bürger auf Mutmaßungen angewiesen.

Merkels Wenden gehen Ohne Aufsehen vonstatten

Einen ganz anderen Umgang mit ihren radikalen Kurswechseln pflegen seit jeher die Grünen. Sie gründeten sich als Bewegungspartei und drängten schon bald in die Institutionen; sie feierten sich als prinzipielle Opposition und suchten dann doch den Weg zur Macht; sie starteten als Antimilitaristen und waren die Ersten, die Bundeswehrsoldaten in zwei Kriege schickten. Interessant bei so viel Wendebereitschaft ist allerdings, dass ausgerechnet die Grünen heute als glaubwürdige Partei gelten. Das liegt daran, dass sie ihre Metamorphosen nicht klammheimlich und verdruckst vollzogen haben. Im Gegenteil, keine andere Partei hat im Laufe der Jahre solch offene, erbitterte Kontroversen ausgetragen. Oft wirkte das befremdlich, manchmal auch zwanghaft und abstoßend. Doch während die politische Konkurrenz eher auf Streitvermeidung setzt, Widersprüche verkleistert und Konflikte dementiert, betreiben die Grünen ihre Revisionen mit erbittertem Ernst. Wo andere Parteien Scheinkontinuität vorspiegeln, zelebrieren sie ihre Brüche. Manchmal wirkte das, als wollten sie den politischen Veränderungsschmerz restlos auskosten.

Das Gegenmodell praktiziert heute Angela Merkel. Ihre Wenden gehen leise und ohne Aufsehen vonstatten. Man erinnert sich noch an die Zeiten, als sie über die Deutschen so redete wie jüngst über die Bewohner verschuldeter europäischer Südstaaten: Ende der Bequemlichkeit, mehr anstrengen, weniger fordern! Damals, nach dem Leipziger CDU-Parteitag 2003, propagierte sie die liberale Mobilmachung von Politik und Gesellschaft. Allein dadurch sollte Deutschland im globalen Wettbewerb bestehen können, wenn überhaupt. Da hatte Gerhard Schröder unter dem Druck der Krise seine Agenda 2010 schon aufgelegt. Als Merkel dann selbst Kanzlerin wurde, war ihr Reformeifer bereits verflogen. Jetzt regierte und konkurrierte sie mit der SPD um sozial verträgliche Lösungen. Nur begründet hat sie ihren Sinneswandel nie.

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