+++ 11.15 Uhr +++
Nach dem Schock über den geplanten Austritt Großbritanniens sucht die Europäische Union eine Antwort, wie es weiter gehen soll. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier beriet am Samstag in Berlin mit seinen Kollegen aus den fünf anderen europäischen Gründungsstaaten Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden. Angebracht seien weder Hysterie noch Lähmung, bekräftigte der SPD-Politiker und warb dafür, den Bürgern besser zuzuhören.
Bei einem Referendum am Donnerstag hatten 52 Prozent der britischen Wähler dafür gestimmt, dass ihr Land die Europäische Union verlässt. Das Votum löste ein Beben aus: Aktienkurse brachen ein, der britische Regierungschef David Cameron kündigte seinen Rücktritt an und die EU schlitterte in eine historische Krise. Die formalen Schritte zur Trennung könnten aber mehrere Jahre dauern.
Bei dem Treffen in der Berliner Villa Borsig sagte Steinmeier, der Schock sitze noch tief und noch nicht auf alle Fragen gebe es Antworten. Es sei nun wichtig, einander zuzuhören und herauszufinden, was die verbliebenen 27 EU-Mitgliedstaaten für die Gemeinschaft wollten. Sein Ministerium betonte, das Gesprächsformat der sechs Länder solle niemanden ausschließen. Die Beratungen sollen bei einem EU-Gipfel und bei einer Sondersitzung des EU-Parlaments nächste Woche vorangetrieben werden.
Über die Lage nach dem Brexit-Votum hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel auch mit US-Präsident Barack Obama am Telefon gesprochen. Beide bedauerten nach Angaben des Weißen Hauses die Entscheidung der Briten.
Obama telefonierte auch mit Cameron. Er sei nach dem Gespräch zuversichtlich, dass Großbritannien einen „geordneten Übergang“ wolle, sagte der US-Präsident in einer Ansprache in der kalifornischen Stanford-Universität. Den Briten versuchte er zu versichern, dass die spezielle Beziehung zwischen Washington und London Bestand haben werde.
Das Brexit-Votum schafft in Europa einen Präzedenzfall. Als Folge forderten Rechtspopulisten in Frankreich und den Niederlanden, ebenfalls über die EU-Zugehörigkeit ihrer Länder abstimmen zu lassen.
Neben der Einheit der europäischen Staatengemeinschaft stellte das Votum auch jene Großbritanniens in Frage. In Schottland sprach sich eine Mehrheit für den Verbleib in der EU aus. Regierungschefin Nicola Sturgeon sagte, sie werde deshalb alles tun, damit Schottland in der EU bleibe. Ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum sei gerechtfertigt und sehr wahrscheinlich. In Nordirland, wo ebenfalls eine Mehrheit für die EU gestimmt hatte, riefen Nationalisten zu einem eigenen Referendum für eine Wiedervereinigung mit dem EU-Staat Irland auf.
Als Folge des Referendums senkte die Ratingagentur Moody's den Ausblick für die Bewertung der Kreditwürdigkeit Großbritanniens von „stabil“ auf „negativ“. Grund sei eine erwartete lange Phase der Unsicherheit. Besonders den Handelsstandort London dürfte dies zusätzlich beunruhigen. Dort hatten große Mehrheiten für einen EU-Verbleib gestimmt.
Bis Freitagabend unterschrieben auf der Webseite des Britischen Unterhauses zudem mehr als 200.000 Menschen eine Petition, die eine Wiederholung des Votums fordert. Die meisten der Unterzeichner stammten offenbar aus London.
+++ 10.50 Uhr +++
Ohne eine Lösung in der Flüchtlingskrise setzt die EU nach Ansicht des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz (ÖVP) ihre Zukunft aufs Spiel. „Sonst steigt die Zahl der Austrittsbefürworter auch in anderen Ländern“, sagte Kurz der Wiener Zeitung „Die Presse“ (Samstag). Die Briten seien wegen des Versagens der EU in dieser Frage sogar bereit gewesen, die Gefahr eines wirtschaftlichen Schadens in Kauf zu nehmen. Kurz forderte dringend eine tiefgreifende Veränderung und Erneuerung der EU. „Sie muss in Zukunft mehr sein als der Status quo ohne Großbritannien“, so der Minister weiter.
Eine weitere Vertiefung der europäischen Integration kommt für ihn nicht infrage. Die Menschen seien nicht deshalb unzufrieden mit der EU, weil sie nicht vertieft genug sei, sondern weil sie aktuelle Herausforderungen nicht meistere. Ein stärkeres Europa sei nur in den großen Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik angebracht. Ansonsten solle sich die EU zurücknehmen. „Die EU darf sich nicht in Details verlieren, wie der Änderung von Speisenkarten wegen einer Allergenverordnung“, sagte Kurz der Zeitung.
+++ 10.00 Uhr +++
Die sechs Gründerstaaten der EU - damals Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) - wollen nach dem Brexit-Beschluss der Briten allen Zweifeln an der Zukunft der Union entgegentreten. Die Außenminister aus Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten kamen am Samstag in Berlin zusammen, um über die Folgen des Referendums zu beraten. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte zu Beginn, von dem Treffen solle die Botschaft ausgehen, „dass wir uns dieses Europa nicht nehmen lassen“. Die EU sei ein weltweit einzigartiges „Erfolgsprojekt von Frieden und Stabilität“.
Deutschland und Frankreich wollen gemeinsame Vorschläge zur Weiterentwicklung der Europäischen Union (EU) vorlegen. In einem Strategiepapier ist von einer „flexiblen Union“ die Rede, die Raum lassen soll für Partnerländer, die weitere Integrationsschritte noch nicht mitgehen können oder wollen. Die sechs Staaten hatten 1957 die EWG gegründet, die Vorläuferorganisation der EU. Zum Abschluss des Berliner Treffens ist eine gemeinsame Erklärung geplant.
Steinmeier bekräftigte: „Das ist jetzt eine Situation, die weder Hysterie noch Schockstarre erlaubt.“ Die EU dürfe jetzt nicht so tun, „als seien alle Antworten schon bereit“. „Wir dürfen nach der britischen Entscheidung aber auch nicht in Depression und Untätigkeit verfallen.“ Europa müsse jetzt auch Lösungen liefern, sowohl in der Flüchtlingskrise als auch in Sicherheitsfragen und beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
Aus anderen Ländern, die bei dem Treffen nicht dabei sind, gibt es Kritik. Steinmeier sagte dazu, es würden in den nächsten Tagen „viele unterschiedliche Gespräche“ stattfinden. „Man muss sich jetzt ein wenig zuhören und abtasten, wo die Erwartungen sind und wie groß die Spielräume sind.“
+++ 09.00 Uhr +++
Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, ist empört darüber, dass der britische Premierminister Cameron nach der Abstimmung erst im Oktober zurücktreten will. "Offen gestanden, ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens", sagte Schulz in den ARD-Tagesthemen. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber, setzt bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen auf Tempo und Stabilität. Dem "Münchner Merkur" sagte er: "Mein Ziel wäre es, die Austrittsverhandlungen auch schnell zu beenden, das heißt etwa innerhalb eines Jahres."