Die umstrittene Einführung eines Präsidialsystems in ihrer Heimat hat die Türken in Deutschland mobilisiert. Vor dem Ende der Abstimmung am Sonntagabend zeichnete sich eine rege Beteiligung der hier registrierten gut 1,4 Millionen Wahlberechtigten ab. Bis zum Samstag gaben laut staatlicher Nachrichtenagentur Anadolu 39,6 Prozent von ihnen ihre Stimme ab.
Zum Vergleich: Bei der türkischen Parlamentswahl im November 2015 waren es knapp 41 Prozent gewesen. Am Sonntag bildeten sich vor den 13 Wahllokalen nochmals teilweise Schlangen. Die Türkische Gemeinde in Deutschland rechnete mit einem knappen Ausgang der hiesigen Abstimmung.
Die Türken in Deutschland konnten zwei Wochen lang bis zum Sonntagabend über das umstrittene Präsidialsystem abstimmen, das Staatschef Recep Tayyip Erdogan anstrebt. Es würde seine Macht deutlich stärken. In der Türkei ist das Referendum für den 16. April (Ostersonntag) anberaumt.
Türkei: Was Sie zur geplanten Verfassungsreform wissen müssen
Staatschef Recep Tayyip Erdogan will ein Präsidialsystem in der Türkei einführen. Nachdem im Januar das Parlament die Vorschläge für die Verfassungsreform beschlossen hat, stimmte das Volk am 16. April in einem Referendum ab. Im Ausland lebende Türken konnten ihre Stimmen vom 27. März bis zum 9. April abgeben. Die wichtigsten geplanten Änderungen.
Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident darf künftig einer Partei angehören. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einem Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung von einer von ihm selbst zu bestimmenden Zahl von Vizepräsidenten, von Ministern und von allen hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitsprachrecht.
Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Gesetze darf (bis auf den Haushaltsentwurf) nur noch das Parlament einbringen.
Parlament und Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.
Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt - unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.
Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen Präsidialsystem neu beginnen. Erdogan wäre also nach einem Wahlsieg 2019 in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2034 an der Macht bleiben.
Der Präsident bekommt mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident auswählt. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte die Mehrheit der derzeit noch 22 Mitglieder des Rates. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bislang wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden. Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen.
Verbote von Wahlkampfauftritten mehrerer türkischer Minister in Deutschland vor der Abstimmung belasten die Beziehungen zwischen Ankara und Berlin bis heute schwer. Dazu trugen auch provokante Nazi-Vergleiche Erdogans bei. Er warf selbst Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, Terroristen zu unterstützen.
Kein eindeutiges Ergebnis erwartet
Zum Ausgang der hiesigen Abstimmung sagte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, der Deutschen Presse-Agentur: „Auch wenn einem das Bild vermittelt wird, es gibt viele Ja-Sager, rechne ich mit keinem eindeutigen Ergebnis.“ Er ging von einer höheren Wahlbeteiligung als bei der türkischen Parlamentswahl 2015 aus. „Viele Menschen interessiert, wie die Türkei in Zukunft regiert wird - nicht, von wem sie regiert wird.“
Allgemein wird mit einem engen Ausgang des Referendums gerechnet. Für Erdogan sind daher die Stimmen der im Ausland lebenden Türken wichtig - zumal diese in Deutschland verstärkt seine AKP unterstützen: So lag bei der Parlamentswahl 2015 der Stimmenanteil für die AKP in Deutschland um rund zehn Prozentpunkte höher als im Gesamtergebnis. Erdogan versuchte am Samstag bei einer Großveranstaltung in Istanbul nochmals, seine Anhänger zu mobilisieren: „Ich rufe dem Ausland von Istanbul aus zu: Unterschätzt es nicht, geht ohne zu zögern an die Wahlurnen und stimmt ab.“
Wann sind türkische Politiker in Deutschland aufgetreten?
Ministerpräsident Erdogan warnt die Türken in Deutschland vor zu viel Anpassung. „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagt er vor etwa 16 000 Anhängern in Köln.
Bei seinem Auftritt vor rund 10 000 Menschen in Düsseldorf fordert Erdogan seine Landsleute zwar auf, sich zu integrieren, lehnt aber erneut eine völlige Anpassung ab: „Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber sie müssen erst Türkisch lernen.“
Erdogan wirbt auf einer Veranstaltung unter dem Motto „Berlin trifft den großen Meister“ vor etwa 4000 Zuhörern um Stimmen für die bevorstehende Direktwahl des türkischen Präsidenten.
Nach dem Grubenunglück im türkischen Soma kritisiert Erdogan vor etwa 15 000 Anhängern in Köln die Berichterstattung in Deutschland. Erneut wirbt er für die Präsidentenwahl. Zur selben Stunde ziehen 45 000 Gegendemonstranten durch die Innenstadt.
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ruft in Berlin vor etwa 3000 Anhängern der AKP-Partei zu mehr Entschlossenheit im Kampf gegen Rassismus auf.
Im Vorfeld der Parlamentswahl in der Türkei fordert Staatschef Erdogan vor etwa 14 000 Anhängern in Karlsruhe, dass sich Menschen mit türkischem Migrationshintergrund integrieren, dabei aber Werte, Religion und Sprache ihrer Heimat bewahren.
Gut zwei Wochen nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei spricht Sportminister Akif Cagatay Kilic in Köln auf einer Pro-Erdogan-Demonstration vor bis zu 40 000 Menschen. Eine Live-Zuschaltung des Präsidenten auf Großleinwand wurde angesichts der aufgeheizten Stimmung zuvor verboten.
Ministerpräsident Binali Yildirim wirbt vor rund 10 000 Menschen in Oberhausen für die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei. Am Referendum im April können sich auch rund 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken in Deutschland beteiligen.
Aus Sicherheitsgründen verweigert die Stadt Gaggenau dem türkischen Justizminister Bekir Bozdag einen Wahlkampfauftritt. Die Stadt Köln lehnt eine Anfrage für einen Auftritt von Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci ab. Tags darauf platzt auch ein Auftritt Zeybekcis in Frechen bei Köln.
Aus Sicht des Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir ist die deutsche Politik mitverantwortlich für die Begeisterung vieler Deutschtürken für Erdogan. „Jetzt erhalten wir die Rechnung dafür, dass Integration in Deutschland viele Jahre stiefmütterlich behandelt wurde“, sagte Özdemir der Deutschen Presse-Agentur. „Wir müssen uns selbstkritisch fragen: Warum können sich so viele Menschen in diesem Land für Erdogan begeistern, obwohl sie hier die Freiheit genießen, die Erdogan ihren Familien und Freunden in der Türkei nehmen möchte?“
Die Oppositionspartei CHP wertete den Ablauf der Abstimmung in Deutschland positiv. Zwar habe es vereinzelt Versuche der Einschüchterung von Gegnern des Präsidialsystems gegeben und auch subtile Versuche von Einflussnahmen der Befürworter etwa in Moscheen. „Im Großen und Ganzen ist aber alles fair abgelaufen“, sagte Kazim Kaya, der Deutschland-Sprecher der CHP, der Deutschen Presse-Agentur.
In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ berichtete er von 57 Unregelmäßigkeiten. So habe es zum Beispiel Versuche gegeben, doppelt zu wählen. Vereinzelt hätten Wahlhelfer auch offen für ein Ja geworben, etwa im Generalkonsulat Frankfurt.
Auch nach dem Referendum werden sich die deutsch-türkischen Beziehungen nach Ansicht der Linken-Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen nicht bessern. „Egal wie das Ergebnis am 16. April aussehen wird: Erdogan wird die Türkei weiter umbauen in einen islamistischen Unterdrückungsstaat“, sagte die Linke-Sprecherin für internationale Beziehungen. „Ich denke nicht, dass unter Erdogan eine substanzielle Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen zu erwarten ist.“