Sind die fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven auch der Grund, warum immer mehr junge Menschen das Land verlassen?
Das ist eindeutig so. Ungarn war bis 2010 kein Auswanderungsland. Es gab Ärzte, die nach Norwegen oder in die Schweiz gegangen sind oder Informatiker, die es nach Irland, Großbritannien oder in die USA gezogen hat. Aber eigentlich sind die meisten Akademiker im Land geblieben. Aus mehreren Gründen gab es bisher eine hohe Heimatverbundenheit. Nun erleben wir zum ersten Mal eine Auswanderungswelle. Bis zu 500.000 Menschen sollen zuletzt Ungarn verlassen haben. Das sind rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung und fast zehn Prozent der Ungarn im arbeitsfähigen Alter. Es wird heutzutage schon in den Abschlussklassen der Mittelschulen darüber gesprochen, in welches Land man später auswandert oder seine akademische Ausbildung beginnt. Mit 18 Jahren ist vielen Ungarn inzwischen klar: Ich gehe weg.
Ungarns Stärken
Ungarn ist ein Transitland mit gutem Infrastrukturangebot sowie Logistikinfrastruktur und gilt als Brückenkopf zu Ost-/Südosteuropa.
Ungarn verfügt über gut ausgebildete und motivierte Arbeitskräfte bei niedrigem Lohnniveau.
Das Land gilt als günstiges Umfeld für Investitionen im verarbeitenden Sektor, allem voran im Kfz-Bau.
Ungarn kann zudem mit einer hohen Produktivität sowie vergleichsweise niedrigen Steuern für kleine und mittlere Unternehmen und höhere Einkommen punkten.
Die Wirtschaft des Landes profitiert von einer engen Verflechtung zu Deutschland, insbesondere Süddeutschland.
Wie könnte sich Ungarns Zukunft doch noch zum Positiven entwickeln?
Es braucht eine 180-Grad-Wende. Klar ist: Wenn Viktor Orbán die Wahlen wieder gewinnt, dann muss er viele seiner Fehler korrigieren. Ungarns Wirtschaft ist dem Untergang geweiht, wenn die Regierung nicht gegenlenkt. Und dazu braucht man vor allem Vertrauen und nicht wenig Geld. Weder das eine, noch das andere kann die gegenwärtige Regierung bereitstellen. Vertrauen zu schaffen für diejenigen, die jahrelang das internationale Vertrauen untergraben haben, ist fast unmöglich. Geld kann man theoretisch dadurch schaffen, dass bisher gemachte Steuergeschenke zurückgenommen werden. Wie so ein Schritt aber erklärt wird, weiß ich nicht. Man kann aber mit Gewissheit davon ausgehen, dass eine solche Maßnahme große Enttäuschung in der Bevölkerung hervorrufen würde.
Nehmen wir an die Opposition gewinnt: Sie würde vor den gleichen Problemen stehen, wie oben erwähnt. Nur kommt erschwerend hinzu, dass die Fidesz-Partei ihre Leute in allen wichtigen Position untergebracht hat. Die öffentliche Verwaltung, die Medien, das Verfassungsgericht: alle Organe sind vollgestopft mit Parteisoldaten der jetzigen Regierung. Sie sind noch für sieben bis acht Jahre laut Gesetz im Amt und sind sicher nicht erpicht, es der jetzigen Opposition leicht zu machen. Ich bin also wenig optimistisch. Für eine nachhaltige Wende brauchen wir zunächst einen Mentalitätswandel der Bevölkerung, zunehmendes Vertrauen und Investitionen von außen, sowie Zeit und nicht wenig historisches Glück.
Kann die Europäische Union Ungarn bei der Bewältigung der großen Probleme helfen?
Brüssel hat es leider verpasst, der Orbán-Regierung frühzeitig Grenzen zu setzen. 2010 wurde Ungarn noch scharf kritisiert, aber es gab keine Konsequenzen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Sanktionen wären nicht das richtige Mittel gewesen. Das hätte die Bürger bestraft und die anti-europäische Stimmung gestärkt. Ich hätte mir gewünscht, dass die Europäischen Volksparteien, zu der Fidesz ja gehört, deutlich gemacht hätten, dass das Verhalten der Orbán-Regierung nicht mit den europäischen Grundsätzen vereinbar ist. Das hätte sicher Eindruck in Budapest gemacht. Im Übergangsjahr mit Wahlen zum Europäischen Parlament und mit der Errichtung einer neuen Kommission scheinen der Europäischen Union die Hände gebunden zu sein, fürchte ich.
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