András Inotai "Ungarn droht unter Orbán zu einem Mafia-Staat zu werden"

Der renommierte ungarische Ökonom András Inotai schlägt Alarm: Sein Land sei in einem schlechten Zustand. Regierungschef Viktor Orbán gehe es lediglich um den Machterhalt, selbst vor Mafiamethoden schrecke er nicht zurück.

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Der renommierte ungarische Ökonom, András Inotai.

WirtschaftsWoche: Herr Inotai, was haben Sie gegen Viktor Orbán?

András Inotai: Viktor Orbán ist absolut provinzial und alles was der Premier politisch macht, dient nur einem Zweck: seinem Machterhalt. Dieser Idee ordnet Orbán alles unter. Es ist ihm egal, ob seine Politik dem Ansehen des Landes schadet oder die Bevölkerung leidet.

Offenbar leiden die Ungarn unter Orbán weniger, als Sie behaupten. Orbáns Partei, Fidesz, hat 2010 die Wahlen mit einer Zweidrittelmehrheit gewonnen und liegt auch in dem Umfragen für die Parlamentswahlen, die wahrscheinlich im April anstehen, deutlich vorne.

Es sieht so als würde Orbán wieder gewinnen, da haben Sie Recht. Das hat aber mehrere Gründe und liegt nicht in erster Linie an der großen Popularität des Premiers. Zum einen ist die Opposition schwach, sie kümmert sich mehr um Personal-, denn um Sachfragen. Zweitens dürfen Sie nicht vergessen, dass bei der letzten Wahl, 2010, die Wahlbeteiligung sehr gering war. Sie betrug nur 44 Prozent. Die Fidesz-Partei hat ihre Zweidrittelmehrheit mit 35 Prozent der wahlberechtigten Stimmen erreicht.

Zur Person

Ein Großteil der Bürger hat sich von der Politik abgewandt. Die Ungarn glauben nicht mehr, von den Mächtigen vertreten zu werden und bleiben bei den Wahlen oftmals zu Hause. Verantwortliche Politiker sollten die Ungarn aufrufen, wählen zu gehen. Es ist ganz klar: Je höher die Wahlbeteiligung, umso größer ist die Chance, dass Orbán nicht gewinnt oder wenigstens seine Zweidrittelmehrheit nicht verteidigen kann.

Lassen Sie uns über das sprechen, was die Regierung in den vergangenen Jahren erreicht hat. Obwohl fast ganz Europa in der Krise steckt, wächst Ungarns Wirtschaft, zuletzt um knapp 1,0 Prozent.

Das Wachstum, das in Ungarn so gefeiert wird, ist – wie Sie ja auch sagen – klein und zudem kein echtes Wachstum. Die Finanzkrise von 2008/2009 hat das ungarische BIP um 6,8 Prozent zurückgeworfen. Keine Frage: Das war anderswo nicht anders. Aber: Während viele europäischen Länder, nicht nur Deutschland, etwa längst das Vorkrisen-Niveau wieder erreicht haben, liegt Ungarn noch weit unter den Zahlen von 2008, nämlich vier bis fünf Prozentpunkte. Ich finde, darauf kann weder die frühere, noch die heutige Orbán-Regierung  wirklich stolz sein.

Das ist Viktor Orbán

Wäre denn wirklich mehr drin gewesen?

Nachhaltiges Wirtschaftswachstum, das ist Lehrbuch, entsteht aus drei Faktoren: der inländischen Nachfrage, Investitionen und Export. Die Investitionen befinden sich im Sturzflug, die Exporte stagnieren. Einzig die Binnennachfrage ist in den letzten Monaten des letzten Jahres besser geworden, weil die Strompreise und Verbrauchspreise gesenkt wurden. Das ist populistisch, aber nicht nachhaltig. Hinzu kommt noch, dass der Löwenanteil des Wachstums im Jahre 2013 von der Landwirtschaft produziert wurde. Nach einem katastrophalen Jahr 2012 ist die landwirtschaftliche Produktion zweistellig gestiegen. Mit einem Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung von fünf Prozent hat die Landwirtschaft allein dieses Wachstum geschaffen.

"Die Energiepolitik hat gefährliche Folgen"

Die größten Nettoempfänger der EU
Ein bulgarischer Landwirt hält eine Nationalflagge während Protesten in Sofia Quelle: dpa
Eine Frau mit einer Rumänischen Flagge Quelle: dapd
Blitze über Bratislava Quelle: dpa
Die Altstadt von Vilnius Quelle: AP
Blick aus dem Rathausturm in Prag Quelle: dpa
Die Projektion der portugiesischen auf einem historischen Gebäude Quelle: REUTERS
Das ungarische Parlament Quelle: dpa

Was haben Sie dagegen, dass die großen Stromkonzerne weniger Profite machen und die Bürger entlastet werden?

Ich habe nichts dagegen, die Bürger zu entlasten. Das ist per se gut, keine Frage. Aber es geht doch darum, ob die Politik nachhaltig ist. Ich befürchte: nein! Per Steuererhöhungen für die Versorger wurden die Kosten für die Verbraucher um bis zu 20 Prozent gesenkt. Das Problem ist, dass die Energieunternehmen keine Profite in gleicher Höhe zuvor gemacht haben. Natürlich haben die Konzerne – Stromversorger, Wasserwerke und die Müllabfuhr – Gewinne gemacht, aber sie haben auch kräftig investiert. Wahrscheinlich könnten sie auch Verluste verkraften, aber nicht in der Höhe. Das ist verrückt und hat gefährliche Folgen.

Fürchten Sie ein Ende der Versorgungssicherheit? Wird es bald dunkel in Ungarn?

Die Folgen sind schon jetzt zu sehen. Konzerne aus Deutschland, wie zum Beispiel E.on, oder aus Frankreich, verlassen das Land. Die Kommunen, die ebenfalls leiden, können nicht weg, und müssen sehen, wie sie die Kosten tragen. Das Ergebnis ist: Es gibt keine Investitionen. Das heißt nicht nur, dass keine neue Leitungen gebaut werden und die Infrastruktur nicht verbessert wird. Nein, sogar die Instandhaltung wird vernachlässigt. Das bekommen die Bürger nicht sofort mit. Einen Aufschrei wird es erst geben, wenn es einen Stromausfall gibt. Ich halte das in absehbarer Zeit nicht für unwahrscheinlich. Darüber hinaus gibt es noch zwei weitere Punkt, die man nicht vergessen darf.

Die umstrittenen Verfassungsänderungen

Und zwar?

Die administrative Preissenkungspolitik führt dazu, dass die Leute nicht zum Sparen erzogen werden. Wenn die Preise künstlich niedrig sind, wird keiner sorgsam mit den Ressourcen umgehen. Warum sollen die Bürger energiesparende Kühlschränke kaufen, warum sollen sie Sparlampen verwenden? Es gibt keine Motivation zum schonenden Umgang mit der Energie und unserer Umwelt. Zweitens: Ein jeder ungarischer Staatsbürger, der Strom oder Wasser verbraucht, genießt die Preissenkungen. Auch die Bürger, die ihr Schwimmbecken heizen. Das ist nicht sozial. Es gibt Bürger, die konnten ihre Stromrechnung nicht zahlen. Denen zu helfen, gehört in den Bereich der sozialen Solidarität. Aber alle Bürger zu subventionieren auf Kosten der Unternehmen und der ungarischen Infrastruktur, ist gegen jede wirtschaftliche Vernunft. Das gilt im Übrigen auch für die einheitliche Einkommensteuer. Seit 2010 muss jeder Ungar, egal, welches Einkommen er bezieht, nur noch 16 Prozent davon versteuern.

Davon müssten Sie profitiert haben!

Das stimmt, ich sollte Orbán danken. (lacht) Im Ernst: Mein Gehalt wurde früher mit 42 Prozent besteuert, jetzt mit 16 Prozent. Das ist für mich schön, aber ich halte es nicht für sozial verträglich, ganz zu schweigen von den negativen Konsequenzen für die Einnahmen des Staatshaushaltes. Es gab vor 2010 Leute, die solch ein kleines Einkommen hatten, dass sie nicht einmal 16 Prozent Steuern zahlen mussten. Die zahlen nun drauf. Das kann wirklich sein. Außerdem leidet der Staatshaushalt. Zwei Milliarden Euro fehlen dem Land – Jahr für Jahr.

"Was nicht passt, wird passend gemacht"

Wer wettbewerbsfähig ist und wer nicht
Platz 57: BulgarienBulgarien wird zurecht als das Armenhaus Europas bezeichnet. Unter 60 Ländern, die die Schweizer Wirtschaftshochschule IMD (International Institute for Management Development) nach ihren wirtschaftlichen Stärken und Schwächen miteinander verglichen hat, landet Bulgarien auf Platz 57 (Platz 54 im Jahr 2012). Damit ist Bulgarien das wirtschaftlich schwächste Land der Europäischen Union. Noch schlechter stehen nur noch Kroatien (Platz 58), das am 1. Juli der EU beitreten wird, Argentinien (Platz 59) und Venezuela (Platz 60) da. Wirklich gut schneidet Bulgarien nur beim Preisniveau ab, da belegt es im internationalen Vergleich Platz vier. In Disziplinen wie Beschäftigungsrate, Arbeitsmarkt, Bildung, Infrastruktur, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Gesundheit und Investments schafft es das osteuropäische Land nicht einmal unter die Top 30. Quelle: dpa
Platz 55: RumänienIm gleichen Atemzug mit Bulgarien wird stets Rumänien genannt. Das Land liegt im internationalen Vergleich auf Rang 55, im Vorjahr schaffte es Rumänien noch auf Platz 53 von 60 im World Competitiveness-Ranking. Von 21,35 Millionen Einwohnern haben 10,15 Millionen einen Job, die Arbeitslosenquote beträgt 6,8 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Rumäniens liegt bei 169,4 Milliarden Euro - im internationalen Vergleich macht das Platz 48 von 60. Beim BIP pro Kopf schafft es das Land mit 16.062 Euro auf Rang 46. Wirklich glänzen kann auch Rumänien nur beim Preisniveau, da landet es auf Platz neun von 60. Die zweitbeste Wertung bekommt das osteuropäische Land für seine Beschäftigungsquote: Hier liegt es im internationalen Vergleich auf Rang 33. Fragt man Unternehmen, was sie am meisten am Wirtschaftsstandort Rumänien schätzen, nennen 78,7 Prozent die offene und freundliche Art der Menschen. Eine kompetente Regierung lobten dagegen nur 11,5 Prozent und ein wirksames Rechtssystem attestierte dem Land niemand. Dafür lobten immerhin 52,5 Prozent der Befragten die Dynamik der Wirtschaft. Quelle: dpa
Platz 54: GriechenlandAuch Griechenland gehört weiterhin zu den Sorgenkindern Europas, konnte sich aber binnen eines Jahres von Rang 58 auf 54 verbessern. Griechenland muss auch 2013 weiterhin daran arbeiten, seinen aufgeblasenen Verwaltungsapparat zu verkleinern und den Finanzsektor wieder auf die Beine zu bringen. Auch in puncto Korruptionsbekämpfung und Steuersystem hat das Land noch einiges an Arbeit vor sich. Dementsprechend rangiert Griechenland, gerade was die Gesamtsituation der heimischen Wirtschaft angeht, auf Platz 60 von 60 Staaten. Auch beim BIP-Wachstum und der Kreditwürdigkeit gibt es nur Platz 60. Allerdings hat sich in Griechenland seit dem letzten Ranking auch einiges verbessert: So konnte das Land sein Image, die Anpassungsfähigkeit der Regierungspolitik und die Staatfinanzen verbessern sowie die Bürokratie verringern. Unternehmen schätzen an Griechenland besonders die gut ausgebildeten Arbeitskräfte sowie das allgemein hohe Bildungsniveau. Quelle: dpa
Platz 46: PortugalBinnen eines Jahres ging es für Portugal im IMD-Ranking von Platz 41 runter auf 46. Jetzt soll die rezessionsgeplagte Konjunktur mit Steueranreizen aufgepeppelt werden. Bei Firmeninvestitionen von bis zu fünf Millionen Euro seien Steuererleichterungen von 20 Prozent möglich, sagte Finanzminister Vitor Gaspar. Die Investitionen in Portugal sind zwar binnen eines Jahres von 10,20 Milliarden Dollar auf 13,79 Milliarden gestiegen, das Bruttoinlandsprodukt schrumpft dennoch weiter. 2012 betrug der Rückgang noch 1,6 Prozent, 2013 waren es schon -3,2 Prozent. Dafür steht Portugal sowohl bei der technischen als auch der wissenschaftlichen Infrastruktur recht gut da. 71,9 Prozent der ausländischen Unternehmer nennen die portugiesische Infrastruktur den attraktivsten Grund, in das Land zu investieren. Weltspitze ist Portugal bei dem Verhältnis Schüler pro Lehrer und den Einwanderungsgesetzen. Auch bei den Ingenieuren belegt Portugal im Ranking Platz vier. Nur Arbeit gibt es für die Fachkräfte kaum, am wenigsten für junge Menschen (Platz 59 bei Jugendarbeitslosigkeit). Auch die Forschung und Förderung von Wissenschaft und Technik, Fortbildungen, Erwachsenenbildung, Börsengänge und der Export gehören zu Portugals Schwächen. Quelle: dpa
Platz 45: SpanienSpanien ist binnen eines Jahres von Platz 39 auf 45 abgestiegen. Im Jahr 2007 stand das Land noch auf Platz 26 der stärksten Volkswirtschaften. Ein deutsche Hilfsprogramm im Volumen von bis zu einer Milliarde Euro soll die angeschlagene spanische Wirtschaft wieder auf die Beine bringen. Derzeit kämpft Spanien besonders mit seiner hohen Arbeitslosenquote (Platz 60 von 60), den Staatsfinanzen (Platz 59) und seinen Verwaltungsverfahren (Platz 56). Auch bei der Langzeitarbeitslosigkeit, Kapitalkosten, Sprachkenntnissen, dem Bankensektor und der Förderung von jungen Unternehmen steht Spanien mehr als schlecht da. Allerdings ist auch auf der iberischen Halbinsel nicht alles schlecht. So ist beispielsweise der Warenexport Spaniens binnen eines Jahres um 1,7 Prozentpunkte gestiegen. Insgesamt schafft es Spanien in neun Wirtschaftsdisziplinen unter die weltweiten Top Ten: Bei den Zinssätzen belegt Spanien unter 60 Ländern Platz drei, bei der Wechselkursstabilität und den Unternehmenszusammenschlüssen und -übernahmen jeweils Platz sechs, beim Export von Dienstleistungen Platz acht. Sowohl bei den Direktinvestments in die Aktien heimischer Unternehmen als auch der durchschnittlichen Lebenserwartung und grünen Technologien schafft es Spanien auf Platz neun und bei der Bilanzsumme des Bankensektors sowie der Arbeitsproduktivität Platz zehn. Quelle: dapd
Platz 28: FrankreichFrankreich dagegen, das ebenfalls wirtschaftlich zu kämpfen hat, konnte sich um einen Platz verbessern. Von Rang 29 ging es hoch auf 28. Trotzdem muss Frankreich seinen Arbeitsmarkt reformieren, wenn es die Erwerbsquote steigern möchte. Weitere Probleme der Grande Nation sind der stetig zunehmende Brain Drain, also das Abwandern von Fachkräften, das stagnierende Wirtschaftswachstum, die geringe Zahl der Beschäftigten, Arbeitsbedingungen und Wochenarbeitsstunden sowie die Haltung gegenüber der Globalisierung. Zu Frankreichs wirtschaftlichen Stärken gehören dagegen die Vertriebsinfrastruktur (Platz eins von 60), die Energieinfrastruktur und die Gesundheitsausgaben (jeweils Platz zwei) sowie die Direktinvestments in Aktien heimischer Unternehmen, der Export von Dienstleistungen, Investments in ausländische Aktien, die Gesundheitsinfrastruktur und die Zahl der Breitbandnutzer (jeweils Platz vier von 60). Insgesamt schaffte es Frankreich in 40 Kategorien 20 mal unter die Top Ten der Welt. Quelle: dpa
Platz 17: IrlandIrland, dass sonst gerne in einem Atemzug mit Italien und Spanien genannt wird, überholt sogar Frankreich, was die wirtschaftliche stärke angeht. Binnen eines Jahres konnte sich die grüne Insel im IMD World Competitiveness-Ranking um drei Plätze verbessern. Das liegt besonders an den gestiegenen Investments, dem herrschenden Zinssatz, dem Wirtschaftswachstum und der Wechselkursstabilität. Auch bei grünen Technologien hat sich Irland laut der Studie seit 2012 verbessert. Zu den besonderen Stärken des rund 4,6 Millionen Einwohner starken Landes gehören Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Unternehmen sowie deren Haltung gegenüber der Globalisierung, die Telefontarife, Belohnungen und Anreize für Investoren, dementsprechend auch die Anzahl an ausländischen Investoren und die Vergabe öffentlicher Aufträge (jeweils Platz eins von 60.) Schlecht steht es allerdings auch in Irland um die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, sowie das BIP pro Kopf bestellt. Quelle: dpa

Wieso hat die Regierung die Steuern überhaupt gesenkt? Bislang galt Orbán nicht als Freund der Reichen und Mächtigen.

Die Regierung ist in sozialen wie in Zukunftsfragen unempfindlich. Orbán hatte immer den Traum, eine neue obere Mittelschicht in Ungarn zu schaffen. Erinnern wir uns: Wie alle sozialistischen Länder hatte Ungarn eine breite Mittelschicht, es gab kaum Reiche und kaum Arme. Durch den Transformationsprozess hat sich das geändert. Fidesz trat mit dem Ziel an, eine neue gutbürgerliche Mittelschicht zu schaffen. In Wirklichkeit aber führt all das nur dazu, dass Ungarn gespalten wird, dass die Wirtschaft ruiniert wird und wenige Orbán-Getreue profitieren. Ungarn droht zu einem Mafia-Staat zu werden.

Das sind harte Worte. Sie müssen Ihre These bitte erklären.

Eine Gruppe von Soziologen hat ein Buch über Ungarn geschrieben. Titel: „Der Mafia-Staat“. Dieses Vokabular ist also nicht meine Erfindung, ich teile die Einschätzung aber. Zu den Hintergründen: Es ist inzwischen so, dass ein Großteil der EU-Fördergelder an die immer gleichen Leute fließt – an Freunde von Freunden der Orbán-Regierung. Das gilt in der Landwirtschaft, wie im Bau, wie im Straßenwesen. Es ist nicht entscheidend, ob die Unternehmen gute Arbeit liefern, sondern ob sie über die nötigen Kontakte verfügen. Und wenn es Hindernisse bei der Zuteilung von Geldern gibt, handelt die Regierung nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Haben Sie von dem Streit um die Tabak-Länden in Ungarn gehört?

Ungarns Schwächen

Nur grob. So weit ich weiß, wurden Lizenzen reglementiert, um den Nichtraucherschutz zu stärken.

Naja, so war zumindest die Argumentation der Regierung. Früher war es so: Zigaretten konnte man überall kaufen. Orbán kam auf die Idee, das Geschäft einzudämmen – mit dem Argument, er wolle die Kinder schützen. Deswegen hat man ein neues Netzwerk geschaffen, spezielle Tabak-Läden. Alle, die früher Zigaretten verkauft und Erfahrung im Geschäft hatten, mussten sich neu um Lizenzen bewerben. Die meisten sind leer ausgegangen. Sie wurden ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt. Die Orbán-Freunde haben rund 80 Prozent der Lizenzen bekommen.

Bei all den negativen Szenarien, die Sie beschreiben, ist es erstaunlich, dass Ungarn noch immer wettbewerbsfähig ist und Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet.

Ungarns Wettbewerbsfähigkeit wird immer mehr untergraben. Das sieht man an den Zahlen noch nicht. In der Tat haben wir einen hohen Handelsbilanzüberschuss. Das ist aber nicht die Folge der rasant steigende Exporte, sondern Folge der zurückgegangenen Importe, weil es keine Investitionen gibt. Wenn ich Geld und eine Projektidee hätte, ich würde sie ganz sicher nicht in Ungarn verwirklichen. Es gibt keine Rechtssicherheit mehr und keine Investitionsbereitschaft. Einzige Ausnahme ist die Automobilindustrie. Daimler und Audi etwa sind weiter in Ungarn aktiv. Vergessen Sie aber nicht, dass der Vertrag mit Daimler noch von der früheren Regierung unterschrieben wurde, da war die Atmosphäre eine ganz andere.

"Der EU sind die Hände gebunden"

Das sind die korruptesten Länder Europas
Eine Hand reicht einen Umschlag mit Bargeld über einen Schreibtisch. Quelle: dpa/dpaweb
Maori warrior perform during an official maori welcome to Britain's royals, Prince Charles (unseen) and his wife Camilla (unseen) Quelle: dpa
An Swedish embassy employee adjusts a Swedish Quelle: dpa
The Swiss flag is projected on the international headquarters of Nestle, Quelle: dpa
A Dutch supporter, his face painted in the colors of the national flag Quelle: AP
Das Brandenburger Tor ist in den frühen Morgenstunden am 05.12.2012 in Berlin hinter einem beleuchteten Tannenbaum zu sehen. Quelle: dpa
A woman leaves a government job center in Madrid Quelle: dapd

Sind die fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven auch der Grund, warum immer mehr junge Menschen das Land verlassen?

Das ist eindeutig so. Ungarn war bis 2010 kein Auswanderungsland. Es gab Ärzte, die nach Norwegen oder in die Schweiz gegangen sind oder Informatiker, die es nach Irland, Großbritannien oder in die USA gezogen hat. Aber eigentlich sind die meisten Akademiker im Land geblieben. Aus mehreren Gründen gab es bisher eine hohe Heimatverbundenheit. Nun erleben wir zum ersten Mal eine Auswanderungswelle. Bis zu 500.000 Menschen sollen zuletzt Ungarn verlassen haben. Das sind rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung und fast zehn Prozent der Ungarn im arbeitsfähigen Alter. Es wird heutzutage schon in den Abschlussklassen der Mittelschulen darüber gesprochen, in welches Land man später auswandert oder seine akademische Ausbildung beginnt. Mit 18 Jahren ist vielen Ungarn inzwischen klar: Ich gehe weg.

Ungarns Stärken

Wie könnte sich Ungarns Zukunft doch noch zum Positiven entwickeln?

Es braucht eine 180-Grad-Wende. Klar ist: Wenn Viktor Orbán die Wahlen wieder gewinnt, dann muss er viele seiner Fehler korrigieren. Ungarns Wirtschaft ist dem Untergang geweiht, wenn die Regierung nicht gegenlenkt. Und dazu braucht man vor allem Vertrauen und nicht wenig Geld. Weder das eine, noch das andere kann die gegenwärtige Regierung bereitstellen. Vertrauen zu schaffen für diejenigen, die jahrelang das internationale Vertrauen untergraben haben, ist fast unmöglich. Geld kann man theoretisch dadurch schaffen, dass bisher gemachte Steuergeschenke zurückgenommen werden. Wie so ein Schritt aber erklärt wird, weiß ich nicht. Man kann aber mit Gewissheit davon ausgehen, dass eine solche Maßnahme große Enttäuschung in der Bevölkerung hervorrufen würde.

Nehmen wir an die Opposition gewinnt: Sie würde vor den gleichen Problemen stehen, wie oben erwähnt. Nur kommt erschwerend hinzu, dass die Fidesz-Partei ihre Leute in allen wichtigen Position untergebracht hat. Die öffentliche Verwaltung, die Medien, das Verfassungsgericht: alle Organe sind vollgestopft mit Parteisoldaten der jetzigen Regierung. Sie sind noch für sieben bis acht Jahre laut Gesetz im Amt und sind sicher nicht erpicht, es der jetzigen Opposition leicht zu machen. Ich bin also wenig optimistisch. Für eine nachhaltige Wende brauchen wir zunächst einen Mentalitätswandel der Bevölkerung, zunehmendes Vertrauen und Investitionen von außen, sowie Zeit und nicht wenig historisches Glück.

Kann die Europäische Union Ungarn bei der Bewältigung der großen Probleme helfen?

Brüssel hat es leider verpasst, der Orbán-Regierung frühzeitig Grenzen zu setzen. 2010 wurde Ungarn noch scharf kritisiert, aber es gab keine Konsequenzen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Sanktionen wären nicht das richtige Mittel gewesen. Das hätte die Bürger bestraft und die anti-europäische Stimmung gestärkt. Ich hätte mir gewünscht, dass die Europäischen Volksparteien, zu der Fidesz ja gehört, deutlich gemacht hätten, dass das Verhalten der Orbán-Regierung nicht mit den europäischen Grundsätzen vereinbar ist. Das hätte sicher Eindruck in Budapest gemacht. Im Übergangsjahr mit Wahlen zum Europäischen Parlament und mit der Errichtung einer neuen Kommission scheinen der Europäischen Union die Hände gebunden zu sein, fürchte ich.

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