Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hat das Ultimatum an die EU erneuert, bei Verweigerung der Visafreiheit für Türken das Flüchtlingsabkommen mit den Europäern platzen zu lassen. Auf die Frage, was geschehe, wenn es aber Oktober keine Visafreiheit für seine Landsleute gebe, sagte Cavusoglu der "Bild"-Zeitung vom Montag: "Entweder wenden wir alle Verträge gleichzeitig an oder wir legen sie zur Seite."
Nach türkischer Lesart bildet die Visafreiheit eine europäischen Gegenleistung für das Abkommen, seit dessen Abschluss der Flüchtlingszustrom nach Europa, etwa aus Syrien, über die Balkan-Route drastisch zurückgegangen ist.
"Wir haben Verträge, wo klar festgelegt ist, dass es im Oktober die Visafreiheit für allen Türken geben wird", sagte der Minister. Es könne nicht sein, dass nur das umgesetzt werde, was für die EU gut sei, sein Land dafür aber nichts bekomme. Die EU hält der Türkei vor, sie habe noch nicht alle der über 70 Kriterien umgesetzt, die Voraussetzung für die Visafreiheit sind. Dabei geht es insbesondere um eine Änderung der Anti-Terrorgesetze in dem Land, die nach Einschätzung der Europäer auch als Mittel gegen politische Kritiker genutzt werden können.
Das ist die Gülen-Bewegung
Der heute 75-jährige Prediger Fethullah Gülen hat sich ursprünglich als einflussreicher islamischer Prediger einen Namen gemacht. Bis in die Achtzigerjahre hinein wirkte er als Iman in verschiedenen türkischen Städten. Mit seinen Predigten und Büchern über den Islam, über Bildungs- und Wissenschaftsfragen soziale Gerechtigkeit und interreligiösen Dialog begeisterte Gülen viele Gläubige. Seit 1999 lebt der gesundheitlich angeschlagene Prediger im US-Staat Pennsylvania. Er war nach einer Anklage wegen staatsgefährdender Umtriebe emigriert.
Gülen steht hinter der Bewegung Hizmet („Dienst“). Hizmet sieht einen ihrer Schwerpunkte in der Verbesserung von Bildungschancen.
Für die meisten innenpolitischen Krisen macht Präsident Recep Tayyip Erdogan seit längerem die mächtige Bewegung Gülens mitverantwortlich. Erdogan wirft seinem einstigen Verbündeten vor, einen Staat im Staate errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. Die Regierung geht massiv gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor, die sie vor allem bei der Polizei und in der Justiz vermutet. Die Gülen-Bewegung wurde zur Terrrororganisation erklärt, viele ihrer führende Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Türkei.
Cavusoglu kritisierte erneut, nach dem Putschversuch von Militärs und den Folgemaßnahmen der Regierung bekomme die Türkei von Teilen der EU lediglich Drohungen, Beleidigungen und eine totale Blockade. An echter Unterstützung habe die türkische Regierung nichts erhalten. Dabei bestehe weiter die Gefahr eines neuen Putschversuchs. Auch in der Flüchtlingsfrage agiere die EU nach dem Motto "Wir sind die Chefs, und so wird es gemacht".
Razzien in drei Gerichten
Derweil geht die innenpolitische Aufarbeitung des Putschversuchs unvermittelt weiter. Die türkische Polizei hat einem Medienbericht zufolge am Montag Razzien in drei Istanbuler Gerichten begonnen. Im Zusammenhang mit Haftbefehlen gegen 173 Bedienstete der Gerichte wegen mutmaßlicher Verwicklung in den gescheiterten Militärputsch würden die Büros der Beschuldigten durchsucht, berichtete die Nachrichtenagentur Dogan am Montag. Die Aktionen finden demnach im Justizpalast sowie zwei weiteren Gerichtsgebäuden im europäischen Teil der Metropole am Bosporus statt. Es seien auch Personen festgenommen worden.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Nach Angaben von Ministerpräsident Binali Yildirim wurden seit dem Putschversuch vor einem Monat mehr als 81.500 Staatsbedienstete entlassen oder suspendiert. Darunter sind Angehörige der Justizverwaltung wie auch des Militärs, der Polizei und des Bildungswesens. Ihnen werden Verbindungen zum Netzwerk des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, den die türkische Führung als Drahtzieher des Umsturzversuchs bezeichnet. Gülen weist dies zurück. Bei dem Putschversuch waren mehr als 240 Menschen getötet worden. Über 35.000 Türken wurden seitdem festgenommen, gegen 17.000 von ihnen wurden Haftbefehle erlassen.