Die seit längerem anschwellende Regierungskrise in der Ukraine konnte mit den jüngsten Wechseln im Ministerpräsidentenamt nicht beendet werden. Und auch der Abgang des bis 2015 gewählten Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch, der letzte Woche aus dem Amt gejagt wurde und nach Russland abtauchte, konnte die Lage in keiner Weise beruhigen. De Jure ist Janukowitsch noch im Amt, nämlich solange das gegen ihn laufende Amtsenthebungsverfahren nicht förmlich abgeschlossen ist.
Der neue kommissarisch tätige Präsident Alexander Turtschinow ist aus dem Kiewer Chaos geboren. Er hat kaum die Statur das Land zu stabilisieren oder wenigstens die auf den 25. Mai vorgezogenen Neuwahlen nach den Standards der westlichen Demokratien durchzuführen. Und: Von welchem Land muss man eigentlich sprechen? Die Ukraine ist in der westlichen Öffentlichkeit in aller Munde, ohne dass so recht klar zu sein scheint, was die Ukraine überhaupt ausmacht. In ihrer heutigen Form ist die Ukraine ein recht junges Land, eigentlich ein Produkt, um nicht zu sagen, ein Kunstprodukt der Entwicklungen der untergegangenen Sowjetunion und den Verhältnissen, wie sie sich nach dem Ende des zweiten Weltkrieges neu sortierten. Die Ukraine ist nicht, wenn man es so ausdrücken möchte, ein klassisches europäisches Königreich gewesen, wie England, Frankreich, Schweden oder Spanien, das einen typischen europäischen Transformationsprozess in die Moderne erlebt hat. Entsprechend ist auch die ukrainische Identität weniger traditionsgebunden, als die meisten Menschen im Westen es vermuten.
Der Westen und die Ukraine
Die ukrainische Gesellschaft ist eine gespaltene, die eher durch das Schicksal von außen vergleichsweise zufällig zusammen gefügt wurde. Der Westen und speziell auch die EU haben nach 1989, als die bipolare Ordnung durch den Untergang der Sowjetunion Schritt für Schritt zusammenbrach, bis heute keine werthaltige Politik gegenüber Russland und auch der Ukraine entwickeln können. Verheißungen gen Osten ohne Erfüllungswillen, Ignoranz gegenüber dem gesellschaftlich-politischen Status quo in den Ländern der untergegangenen Sowjetunion. Undank gegenüber Männern wie Gorbatschow, aber auch gegenüber Männern wie Boris Jelzin und selbst gegenüber Putin, die die Kräfte der Reaktion in Russland nicht so ins Kraut schießen ließen, wie es durchaus zu befürchten war und auch eine völlige Fehleinschätzung der historischen Gegebenheiten disqualifiziert den politischen Westen in einem erschütternden Ausmaß.
Putin als der Lieblingsbösewicht des Westens
Hinzu kommt, mindestens genauso den klaren Blick von West nach Ost trübend, dass sich im Westen in Konsequenz des geistig-gesellschaftlichen Sieges der Westlinken in den meisten Ländern schizophrenerweise im untersten Unterbewusstsein eine Art Philo-Stalinismus in den gedanklichen Nischen etabliert hat, der sich widersinnigerweise aktuell in einer ganz merkwürdigen Verböserung Putins als dem neuen, noch schlimmeren Stalin entlädt. Stalinvergleiche gibt es in den aktuellen Einschätzungen jedenfalls zuhauf und mit solchen Vergleichen spielt man ja eigentlich nicht.
Im Laufe der letzten Jahre hat sich Wladimir Putin, kontinuierlich anschwellend, zu einem Lieblingsbösewicht im Westen empor gearbeitet. Doch abgesehen davon, dass Putin auch mit Hitlerbärtchen gelegentlich im Netz auftaucht, ist er eben kein Stalin und auch niemand, der Stalin nacheifert. Putin ist auch kein Zar oder jemand, der welchem Zaren auch immer nacheifert. Trotzdem werden in vielen Texten, die derzeit Konjunktur haben, die Beschreibungen der aktuellen Lage gespickt mit Assoziationsöffnungen Richtung Militäraufmarsch, Zarentum oder Stalinphantasien. Selbst der als kühl geltende Politikvormann der FAZ, Berthold Kohler, konnte in seinem Beitrag "Putins wahres Gesicht", der insofern wenig Mehrwert brachte, offenbar nicht auf entsprechende Anspielungen verzichten.
Allerdings: Bis jetzt ist verdammt wenig passiert und das ist gut so. Putin hat mit den Säbeln gerasselt und auf der, historisch gesehen, neuralgischen Halbinsel Krim seine Soldaten, die dort vertragsgemäß stationiert sind, aus den Kasernen herausgelassen und ein paar zusätzliche Soldaten in die russischen Stützpunkte entsandt.
In der Ukraine und in den westlichen Medien ist man alles andere als cool. Man zündelt und man heizt an. Prompt tauchen Gerüchte von militärischen Ultimaten aus Moskau auf und die Börsen in Russland, aber auch weit darüber hinaus, reagieren mit ziemlich armseligen, reflexhaften, ja beinahe panischen Aktionen. Alle machen sich angeblich Sorgen, benehmen sich aber oft so, dass sie die Voraussetzungen für die Sorgen erst richtig schaffen oder die entsprechenden Szenarien anheizen, die Sorgen berechtigt erscheinen lassen können. Doch Russland, auch das Russland unter Putin, wird keinen Krieg, weder in der Ukraine noch speziell auf der Krim gegen wen auch immer beginnen. Und es wird auch den vielbeschworenen Flächenbrand bis hin zu dem bereits assoziierten dritten Weltkrieg nicht geben.
Die Politik im Westernstyle, wie sie den USA auch unter Obama immer wieder unterläuft, hat etwas Lächerliches. Die schon geäußerte Idee von US-Außenminister John Kerry, Russland jetzt aus der G-8-Runde zu entlassen, ist eine recht dumme Idee. Auch das Sanktionsgerede aus der EU Richtung Putin ist wenig sinnvoll, ganz davon abgesehen, dass weder die USA noch die EU noch einzelne Bündnisse des Westens, wie die Nato, ein tolles Sanktionsarsenal zur Verfügung haben. Russland ist geostrategisch ein echter Global-Player und wirtschaftlich ein kränkelnder Riese mit punktuellem High-Tech-Potenzial, siehe Raumfahrt, und einer schwergewichtigen Rohstoff-Industrie. Und viele Russen aus der Nomen Klatura haben entscheidende, höchst persönliche ökonomische Interessen im Westen und vielleicht auch dort, wo manch westlicher Kapitalist gerne aktiv ist, nämlich in den berühmten Steueroasen dieser Welt.
Der Antagonismus zwischen Russen und Ukrainern in der Ukraine
Der Kommunismus hat das Monopolkapital in den Händen einer, relativ gesehen, großen Oberschicht im Zarenreich abgeschafft und, so könnte man witzeln, am Ende eine Monopolisierung des Kapitals in den Händen weniger Oligarchen bewirkt. Das gilt nicht nur für Russland, sondern auch für die Ukraine. Pro Kopf gesehen sind beides vergleichsweise arme Länder, die sich staatlich subventionierte Superreiche leisten. Allerdings können diese es mit den Mogulen im Westen und mit denen in der zweiten und dritten Welt aufnehmen. Diese oligarchischen Strukturen sind ein zusätzlicher Garant, wenn auch nicht der Schönste, dafür dass Russland den Ball militärisch nicht nur flach halten wird, sondern diesen gar nicht erst aufs Spielfeld wirft.
Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier macht die beste Figur im internationalen Konzert. Er bleibt emotionslos, lässt sich von dem Pulverdampf vor Ort, aber auch von dem Pulverdampf in den deutschen Medien nicht aus der Ruhe bringen und plädiert für das Gespräch mit der Führung in Moskau und Kiew und für das Prinzip Geduld und Augenmaß.
Mit seiner verfehlten Politik hat der Westen und auch Deutschland die wirtschaftlich in Korruption und Ineffizienz versinkende Ukraine in die Lage gebracht, entweder in Europa oder in Russland oder sowohl als auch um Hilfe und Unterstützung zu betteln. Somit hat Europa selber dazu beigetragen, dass ein jetzt virulent werdender Antagonismus, auch innerhalb der ukrainischen Gesellschaft, zwischen den Russland-bezogenen Menschen in der Ukraine und jenen, die nach Westen schauen, hoch gepeitscht wurde. Jetzt sind Geister geweckt worden, die es in der Form vor kurzem noch gar nicht gab und die nicht wieder so einfach in die Flasche zu bringen sind.
Das Gezerre um die Ukraine zwischen dem Westen und Russland war eine vermeidbare Erscheinung. Die Krim, ein autonomer Teil der Ukraine, historisch gesehen mehr durch eine Absurdität der Ukraine zugeschlagen und dies auch erst 1954, ist ein Sonderfall, der eher durch die Ereignisse in der Ukraine virulent gemacht wurde, als dass er aus sich heraus auf der Tagesordnung auftauchte. Die Krim wird mehrheitlich von "Russen" bewohnt, wie es in den deutschen Medien regelmäßig heißt, wo man nach politisch korrekter Mainstreamsprache eigentlich eine andere Formulierung erwarten dürfte, nämlich, dass die Krim mehrheitlich von Menschen mit ausländischen sprich russischen Wurzeln bewohnt wird.
Es gibt einen Antagonismus zwischen den Ukrainern und den Russen in der Ukraine, der bisher aber gut austariert war und der jetzt außer Kontrolle geraten könnte, in dem es zu innerukrainischen Auseinandersetzungen kommen könnte. Niemand will eine Spaltung der Ukraine, aber wenn eine Spaltung der Ukraine eine befriedende Wirkung ausüben könnte, dürfte sie kein Tabuthema sein. Alle wollen angeblich Europa und es entspricht dem Mainstream zu sagen, dass die nationalen Identitäten gar keine Rolle mehr spielten. Warum sollten dann beispielsweise die Schotten nicht ihr eigenes Land bekommen oder warum sollen die Russen nicht autonome oder selbstständige Gebiete auf dem Boden der heutigen Ukraine bekommen? Warum soll es auf der Krim nicht eine Volksabstimmung geben, ob die Krim endgültig selbstständig wird oder sich der Ukraine oder eher Russland anschließt?
Der Krimkrieg von 1853 war, so könnte man sagen, der wahre erste Weltkrieg. Damals hat sich der Westen, noch bestehend aus den Engländern, Franzosen und einigen anderen europäischen Regionen auf der Krim überengagiert und auf höchst blutige Weise zum Idioten gemacht. Diese Tradition muss ja nicht unbedingt fortgesetzt werden. Auch schon vor 150 Jahren wollte der Westen den russischen Einfluss in der Region zurück drängen, reichlich weit entfernt von London oder Paris.
Der Westen muss seine Schulmeisterrolle zurücknehmen
Bis zur russischen Revolution vor 100 Jahren war der Gedanke eines umfassenden russischen Reiches mit sehr verwandten Sprachen und Kulturen, bestehend aus Großrussland, Weißrussland und Kleinrussland, sprich der Ukraine, ein Gedanke, ein Traum und ein Werturteil, das den Menschen sehr vertraut war. Dann betraten die russischen Revolutionäre die politische Bühne und verbannten den Gedanken des großen russischen Traums aus den Köpfen der Menschen. Sie erfanden eigens nationale Identitäten für die Ukrainer und die Weißrussen, denen sie verkauften, dass sie der Revolution in Russland helfen sollten, um von den Russen im Gegenzug von ihren eigenen feudalen Strukturen befreit zu werden und sodann im internationalistischen, entnationalisierten Kommunismus gemeinsam glücklich zu werden.
Es gibt also durchaus die Möglichkeit an alte Ideen anzuknüpfen und höchst artifizielle Antagonismen, die zwischen Russland und der Ukraine jetzt aufgebaut oder kultiviert werden, zurück zu drängen. Natürlich muss Putin jede Art von Kolonialisierung oder Bevormundung der Ukraine aufgeben, falls er derartige Ideen hegen sollte. Und die russische Seite muss das Erbe des Holodomor annehmen und Stalins Völkermord an den Ukrainern aufarbeiten.
Demokratische Wahlen können vieles in der Ukraine, und natürlich auch auf der Krim und vor allem in Russland selber richten, aber demokratische Wahlen benötigen umgekehrt auch Voraussetzungen und die sind derzeit kaum gegeben. Erstens muss die Ukraine wirtschaftlich soweit auf die Beine gebracht werden, dass die Menschen nicht aus wirtschaftlicher Not wählen, was sie bei vernünftigem Nachdenken niemals wählen würden, zweitens müssen höchst artifizielle Konflikte entemotionalisiert werden und drittens macht die Verböserung Putins, die im Westen routiniert zur Schau gestellt wird, überhaupt keinen Sinn.
Eine falsche und überzogene Putinschelte ist kontraproduktiv und es ist ganz gut, dass die Bundeskanzlerin klar stellen ließ, dass sie Putin in einem Gespräch mit Obama dann wohl doch nicht für realitätsverlustig, also beschränkt zurechnungsfähig erklärt hat.
Es mag sein, dass auch Putin, wie jeder andere politische Führer an solchen Schaltstellen, wo Weltpolitik gemacht wird, seine Träume hat. Und es mag auch sein, dass seine Träume dahin gehen, Russland größer und stärker zu machen, aber das ist ja eher normal und legitim. Solche Träume gab es in Instanbul, als die Krim von dort aus beherrscht wurde und es gibt sie heute in Ankara und vielen anderen Orten. Die Nationen stehen im internationalen Wettkampf und dieser Wettkampf hat per se nichts mit Nationalismus zu tun. Jetzt ist bei weitem nicht nur Russland gefordert, sondern in besonderer Weise auch die Ukraine selber. Und der Westen muss moderieren, wirtschaftlich helfen und sich auch ein Stück weit aus der Schulmeisterrolle zurücknehmen. Langfristig gehören Russland und die Ukraine in die EU. Wohin sonst?