"Brexit"-Debatte Johnson ist Camerons gefährlichster Gegner

Wuschelfrisur und markige Sprüche machen Boris Johnson zu einem der beliebtesten britischen Politiker. Dass Londons Bürgermeister sich auf die Seite der EU-Gegner schlägt, gibt der „Brexit“-Kampagne Auftrieb.

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Londons Bürgermeister Boris Johnson Quelle: REUTERS

In London nennen sie ihren Bürgermeister einfach nur Boris. Er ist chronisch verstrubbelt, nie um einen Spruch verlegen und betritt den Regierungssitz in der Downing Street schon mal mit Fahrradhelm auf dem Kopf. Dass Boris sich - nach scheinbarem Zögern - auf die Seite der EU-Gegner schlägt, nennt das Boulevardblatt „Sun“ treffend eine „blonde Bombe“. Boris Johnson ist von einem Tag auf den anderen so etwas wie das Gesicht der „Brexit“-Kampagne, die vor dem Referendum im Juni für den Abschied aus der Union wirbt.

EU-Feinde jubeln: Kaum einer kann dem „Projekt Drinbleiben“ von Premier David Cameron im Juni so gefährlich werden wie der 51-Jährige. Rechtspopulist Nigel Farage schreckt die politische Mitte eher ab, Justizminister Michael Gove gehört zu den unbeliebtesten Politikern. Boris Johnson ist im politisch zu Labour neigenden London als Konservativer zweimal zum Bürgermeister gewählt worden.

Londons Sonderwege in Europa
1960Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt. Im Bild: Der damalige EFTA-Generalsektretär Kjartan Joahnnsson (rechts) mit seinem Vorgänger Georg Reisch (links) zu den Feierlichkeiten zum 40-jährigen BEstehen der EFTA in Genf. Quelle: REUTERS
Charles de Gaulle Quelle: AP
Premier Harold Wilson Quelle: REUTERS
Margaret Thatcher Quelle: AP
1990Die EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit. Quelle: AP
John Major, ehemaliger Premier Großbritanniens Quelle: REUTERS
Premier Tony Blair Quelle: AP

„Dies ist die einzige Gelegenheit, die wir je haben werden, um zu zeigen, dass uns Selbstbestimmung wichtig ist“, schreibt Johnson am Montag im „Telegraph“, einer extrem EU-kritischen Zeitung. „Ein Bleibe-Votum wird in Brüssel als Signal für mehr Föderalismus und die Erosion der Demokratie aufgefasst werden.“

Das ist nichts anderes als ein Schlag ins Gesicht seines Parteichefs Cameron, dessen politische Zukunft an einem Ja zur EU am 23. Juni hängt. Nur neun Minuten vor dem Statement soll Johnson dem Premier per SMS Bescheid gegeben haben. Da hilft es nichts, dass der strohblonde Politiker am Sonntag vor zig Kameras mit niedergeschlagenen Augen stammelt, gegen Cameron die Regierung zu steuern sei „das Letzte, was ich wollte“, oder dass er Fernsehdebatten meiden will. „Nun ist die Bestie des heißblütigen Euroskeptizismus entfesselt“, kommentiert ein „Guardian“-Kolumnist.

Was macht Johnson so beliebt oder - aus Camerons Sicht - gefährlich? Er gehört zum Establishment wie der Premier, sie waren zusammen auf dem Eliteinternat Eton. Aber Johnson kommt nicht so rüber. Er lässt Radwege bauen und sich ständig auf dem Fahrrad filmen, nimmt kein Blatt vor den Mund und wirkt immer wie gerade erst aufgestanden, manchmal sogar trottelig - die Briten haben für Antihelden etwas übrig. Wenn Boris Union-Jack-schwingend hilflos in einer Seilbahn hängen bleibt, ist ihm das nicht peinlich. Er schlägt daraus Profit.

Wie groß der „Boris-Effekt“ beim Referendum sein wird, ist freilich noch nicht abzusehen. Die britischen Zeitungen kennen am Montag kein anderes Titelthema, doch Politologe Matthew Goodwin von der Universität Kent hält Johnsons Einfluss für überschätzt. „Es spricht ein bisschen was dafür, dass er unentschiedene Wähler ins Austritts-Lager locken kann“, sagt der Professor. Einfluss habe der Bürgermeister schon, das zeigten Umfragen. „Aber die Politiker, die drinbleiben wollen, sind eindeutig in der Überzahl.“

Mit wie viel Nachdruck Johnson für den „Brexit“ trommeln wird, ist auch offen. Großbritanniens Zukunft ist wohl nicht das einzige Motiv hinter seinem Outing als EU-Gegner. Längst läuft bei den Tories das Rennen um die Nachfolge David Camerons. Johnson gilt als Kandidat, ebenso Finanzminister George Osborne und Innenministerin Theresa May. Beide werden in den kommenden Wochen fürs Bleiben in der Europäischen Union werben. Kann 2020 jemand Premierminister werden, der bei dieser nationalen Schicksalsentscheidung nicht auf der erfolgreichen Seite gestanden hat?

Auch wenn die Briten im Juni entschieden, in der EU zu bleiben, werde Johnsons Positionierung „massive Auswirkungen“ haben, ist Anand Menon vom Londoner King's College überzeugt. Denn damit stehe fest, dass Europa ein Schlüsselthema bei den konservativen Tories bleibe. Man könne meinen, dass die Frage der EU-Mitgliedschaft nach dem Referendum endgültig geklärt sei und die Briten sich in Europa weniger zierten. „Eine der größeren und eher traurigen Folgen dieses Schritts von Boris ist, dass das nicht der Fall sein wird.“

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