Brexit Die Rechnung für den Ausstieg aus der EU

Die Europäische Union fordert von Großbritannien zum Ausstieg horrende 57 Milliarden Euro. Theoretisch könnte es sogar doppelt so teuer für die Briten werden.

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Belastet der Brexit den deutschen Bankensektor?

Fast immer, wenn der britische Schatzkanzler Philip Hammond auf seine europäischen Ministerkollegen trifft, äußert er einen dringenden Wunsch: Die Europäer mögen doch – please! – den Briten nicht gleich zu Beginn der Verhandlungen eine hohe Rechnung für ihren Ausstieg aus der Europäischen Union (EU) präsentieren. Kein Wunder: Schließlich hat das Brexit-Lager mit finanziellen Vorteilen für die Stimme der Briten zum Ausstieg geworben. Käme es also anders, würde das gebrochene Wahlversprechen gleich offenbar.

Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte

Doch Hammonds Flehen verhallte bislang ungehört. Die EU-Vertreter marschieren mit Forderungen in Höhe von rund 57 Milliarden Euro in die Trennungsgespräche. Ihr Chefunterhändler Michel Barnier betont zwar, es gehe keineswegs darum, ein Land für seinen Austritt zu bestrafen. Aber er fügt sofort hinzu: „Wir müssen eine Abrechnung machen.“

Das viele Geld dürfte einer der wichtigsten Streitpunkte der Austrittsverhandlungen werden, die wohl im Juni beginnen. Die EU-Rechnung ist nicht nur hoch, sie hat auch einen hohen Symbolwert – auf beiden Seiten des Kanals.

Fällt Großbritannien in Zukunft als Nettozahler aus, werden nämlich pro Jahr zehn Milliarden Euro im EU-Haushalt fehlen. Die anderen Mitgliedstaaten freuen sich deshalb über jede Milliarde, die vorher noch in die gemeinsame Kasse fließt.

Brüsseler Insider halten es dennoch für einen Fehler, dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Summe von etwa 57 Milliarden Euro bestätigte, bevor sich beide Seiten über die Berechnungsmethode unterhalten haben. Bislang basiert jede Kalkulation auf so vielen schwierig zu belegenden Annahmen, dass London locker eine ähnlich plausible Gegenrechnung aufstellen könnte.

Wer zahlt für Pensionäre?

Zudem bezweifeln die Briten ganz grundsätzlich, dass sie Schulden begleichen müssen. „Rechtlich gesehen ist Großbritannien nicht zu Zahlungen nach dem Austritt verpflichtet“, schlussfolgerte Anfang März ein Bericht des britischen Oberhauses. Noch immer scheint der Glaube an die eigene Kraft auf der Insel extrem ausgeprägt – die sich auch darauf erstreckt, in den Verhandlungen mit den Europäern stark zu bleiben. Diese Überzeugung verkörpert sich sogar im Verhandlungsführer der Briten, David Davies. Der Chef des Brexit-Ministeriums hat früher als Amateurboxer brilliert, er weiß also, wie man Rückschläge einsteckt und wie man austeilt.

Die EU – vertreten durch Exfinanzkommissar Barnier, der stark akzentuiertes Englisch spricht – hält dagegen: Die Briten hätten als EU-Mitglied eine Vielzahl von Entscheidungen mitgetragen, die sie nun weiter finanzieren müssten. „Sie verhalten sich, als wenn sie aus einem Golfclub austreten wollten, weil sie nicht mehr spielen kommen“, sagt Inge Gräßle (CDU), Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses im Europäischen Parlament.

Die Europäer haben zwei Möglichkeiten: Die Briten bestrafen, dass sie die EU verlassen oder die Staatengemeinschaft reformieren. Denn der Brexit ist auch eine Chance. Die Frage ist nur, ob die Europäer sie ergreifen.
von Andreas Freytag

Ein ziemlich teurer Club: Bis Ende 2018 werden sich die bewilligten, aber noch nicht ausgezahlten Transferleistungen der EU auf 241 Milliarden Euro belaufen. Zum großen Teil handelt es sich um Regionalförderung, für die sich Großbritannien stark gemacht hat. So wäre es aus Sicht Brüssels nur fair, dass Großbritannien seine Pflichten daran auch erfüllt.

Doch in welcher Höhe? Zwölf Prozent würden etwa dem bisherigen Anteil der Briten am EU-Haushalt entsprechen. Nur acht Prozent hingegen, wenn man den Nettobeitrag der Briten samt Rückflüssen an den britischen Staat heranzöge.

Wie auf dem Basar

Umstritten sind auch die ausstehenden Pensionsforderungen. Manche wollen den Briten davon nur vier Prozent aufbürden, weil dies dem Anteil der Briten an den EU-Pensionären entspricht. Europäische Verhandler argumentieren aber, alle pensionierten EU-Beamten hätten auch für Großbritannien gearbeitet. Klingt kleinlich? Von wegen. Da sich die Pensionsverpflichtungen für die kommenden 30 Jahre auf insgesamt 63,8 Milliarden Euro belaufen, ist die Größe des britischen Anteils alles andere als banal.

Der Brexit-Fahrplan

Noch schwieriger wird die Berechnung der britischen Verbindlichkeiten, wenn Kredite und Garantien berücksichtigt werden, die die EU vergeben hat. Sie alle bergen ein Ausfallrisiko, das in jedem Einzelfall berechnet werden müsste. „Aber wie genau lässt sich beziffern, ob die Ukraine ihren Kredit über 1,2 Milliarden nicht zurückzahlt?“, fragt ein EU-Beamter entnervt.

Als wäre das Zahlenwerk noch nicht kompliziert genug, ist bei der Brüsseler Brexit-Rechnung die Europäische Investitionsbank (EIB) in Luxemburg noch gar nicht berücksichtigt, für die Barnier mitverhandelt. Dieser Posten könnte die britischen Gesamtschulden glatt verdoppeln – was bisher von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Großbritannien gehört wie Deutschland, Frankreich und Italien zu den größten Anteilseignern und hält 16,1 Prozent der EIB-Anteile. Das Land könnte beim Brexit also 10,2 Milliarden Euro abziehen. EIB-Chef Werner Hoyer hat die Briten aber bereits darauf hingewiesen, dass es nur logisch wäre, die Briten im selben Maße an den Verbindlichkeiten der Bank zu beteiligen. Bei Gesamtschulden von 469 Milliarden Euro ergibt sich daraus ein britischer Anteil von 75,5 Milliarden Euro. Unter dem Strich würde Großbritannien dann also zudem der EIB noch 65,3 Milliarden Euro schulden.

Teure Rechnung: Forderungen der EU an Großbritannien. Für eine detaillierte Ansicht bitte auf die Grafik klicken.

Großbritannien könnte dies abwenden, indem es auch nach dem Brexit Anteilseigner der EIB bliebe. Interesse daran hätte das Land: Die EIB hat in den vergangenen fünf Jahren Kredite von über 30 Milliarden Euro an Projekte in Großbritannien vergeben, zumeist für Infrastrukturprojekte. Doch auch hier gibt es einen Haken: Großbritannien kann nur Anteilseigner bleiben, wenn alle Mitgliedstaaten einer entsprechenden Änderung der Statuten zustimmen.

Bereits jetzt ist deshalb absehbar, dass es in den kommenden zwei Jahren wie auf dem Basar zugehen wird. EU-Parlamentarierin Gräßle ist etwa überzeugt, das britische Einstiegsgebot werde bei null Euro liegen. Doch beide Seiten werden sich irgendwann irgendwie bewegen müssen. Ein hoher Brüsseler Beamter glaubt: „Am Schluss dürften die Politiker die Mitte austaxieren.“

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