Brexit "Die sind doch nicht doof!" – Und wenn doch?

Der Entschluss zum EU-Austritt schadet vor allem den Briten. Aber er ist ein Weckruf für ganz Europa: Können Politiker den Nutzen Europas nicht mehr erklären, werden Ignoranz und wirtschaftliche Unvernunft den Kontinent zerreißen.

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"Die Briten sind leider doch doof"

Die Briten sind ein stolzes Volk. Besonders stolz sind sie auf ihre Fähigkeit zu einer „Stiff Upper Lip“. Diese Gabe, auch in schwierigen Situationen Ruhe und Entschlossenheit zu bewahren und einfach weiterzumachen, kann eine tolle Sache sein. Sie half dem Land etwa, weitgehend alleine dem Nazi-Regime zu trotzen.

Sie kann aber auch eine sehr schwierige Angelegenheit sein, weil die Lip in ihrer Reinform dazu einlädt, selbst beim größten anzunehmenden Unsinn, einem regelrechten Doofheits-Gau, keine Miene zu verziehen.

So einen Unsinn haben die Briten sich gerade selber eingebrockt, mit ihrem Nein zu einer weiteren Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Es ist eine Wahl der größten anzunehmenden ökonomischen Unvernunft – und bezahlen müssen die Briten selber.

Großbritannien mutiert zu „Little England“

Für das Land wird die Entscheidung sehr, sehr teuer werden. Und ob die USA wirklich bereitstehen, um solche Verluste des einst wichtigsten Partners auszugleichen? Großbritannien müsse sich hinten anstellen, hat US-Präsident Barack Obama bei seinem Staatsbesuch in London gerade kühl beschieden.

Das Land, dem die eigene Größe stets so wichtig war, hat der eigenen Verzwergung zugestimmt.

Großbritannien wird zu einer Art „Little England“ mutieren, einer Mittelmacht unter vielen, wie beim Fußball schon seit Jahrzehnten der Fall.

Wie die EU auf diesen Unsinn reagieren soll? Eine Stiff Upper Lip muss auch sie zeigen, und Haltung bewahren. „Alles klar, dann gute Reise“, sollte die Botschaft lauten, statt hektischer Nachverhandlungen und neuer Kompromissangebote, von der nun manche in Brüssel raunen.

Die EU wird ohne Großbritannien nicht untergehen und auch nicht zerfallen. Dafür war die bisherige Rolle der Briten häufig schon zu destruktiv. Im Gegenteil, aus der Brexit-Entscheidung könnte eine Art Revitalisierung der Gemeinschaft folgen – denn hinter den Briten verstecken kann man sich nun nicht mehr. 

Leave-Kampagne enttarnt Europas Verfassung

Sich auf so eine Revitalisierung zu verlassen und einfach weiterzumachen wie bisher, kann aber auch keine europäische Alternative sein. Weniger, weil die Abstimmung so grundlegende Fehler der eigenen Konstruktion offengelegt hat. Sondern weil die britische Leave-Kampagne eine Grundschwäche der europäischen politischen Verfassung enttarnt – die Unfähigkeit, den Wähler mit rational ökonomischen Argumenten zu erreichen.

Cameron hatte seinen Kampf um das Argument aufgebaut, ein Verbleiben in der EU sei wirtschaftlich richtig und wichtig. Dafür hatte er jede Menge Studien und Fakten parat, die alle haarklein belegten, dass Großbritannien zu den größten Gewinnern des EU-Binnenmarktes gehört, dass dieses Land sehr viel „better off“ in der europäischen Gemeinschaft ist als außerhalb von ihr.

„Die sind doch nicht doof“, war ein Standardsatz in Brüssel und anderswo, wenn es um die Möglichkeit ging, die Briten könnten sich wirklich für einen Austritt entscheiden.

Meinung ist alles

Aber diese scheinbar so bestechende Vernunft ließ sich leicht aushebeln. Auch weil dieser britische Meinungskampf in all seiner Hässlichkeit, Aggression und häufig offenen Unwahrheit eher an amerikanische Zustände erinnerte als an europäische. Aber es sind Zustände, an die wir uns im Zeitalter der sozialen Medien gewöhnen müssen - in der Meinung (vor allem die, die man sich von Gleichgesinnten stetig bestätigen lässt) alles ist und Fakten wenig.

"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa

Und wir dürfen nicht vergessen: diese Anti-EU-Ressentiments haben verfangen, weil sie ein dumpfes Gefühl bedienen, dass „die da oben“ abgekoppelt sind vom Rest der Welt, dass die Moderne, die rasante Globalisierung etwas Beängstigendes sind – eine Welt, in der ein Durchschnittsbürger rasch aus dem Tritt gerät.

Wie man diese Wähler wieder erreicht, das ist die wahre Herausforderung für die Politiker in Brüssel, aber auch in Berlin, Paris, Madrid oder Lissabon. Denn davon gibt es in Europa sehr, sehr viele.

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