Ein übernächtigter Brexit-Minister David Davis fiel EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker um den Hals, Premierministerin Theresa May beließ es bei einem festen Händedruck. Szenen am Ende einer langen Verhandlungsnacht, Freitagmorgen in Brüssel. Als Reaktion auf den dort erzielten Durchbruch bei den Brexit-Gesprächen legte das Pfund kräftig zu und kletterte gegenüber dem Euro auf seinen höchsten Stand seit beinahe sechs Monaten.
Mit Erleichterung reagierten auch die Unternehmen auf der Insel und auf dem europäischen Kontinent auf die Nachricht, dass ein Scheitern der Scheidungsverhandlungen in letzter Minute vermieden werden konnte. Priorität für sie: nun bestehen gute Aussichten für den Beginn der eigentlichen Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen und die von der Wirtschaft so dringend gewünschte Übergangsperiode.
Gleichzeitig mischte sich in ihren vorsichtigen Optimismus aber auch ein großer Schuss Skepsis. Denn in den drei Schlüsselproblemen Finanzen, EU-Bürgerechte und der Grenze zwischen der Republik Irland und dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland, die als Voraussetzung für den Abschluss der Gespräche über die Austrittsbedingungen gelöst werden mussten, waren zwar Kompromisse erzielt worden. Die kontroverse Grenzfrage in Irland ist aber prinzipiell ungelöst. Denn es gilt: „Dass nichts vereinbart ist, bis alles vereinbart ist“, wie die Chefin der nordirischen Protestantenpartei DUP, Arlene Foster, unverzüglich drohte. Das irische Grenzproblem ist nur aufgeschoben, es könnte alles zum Scheitern bringen.
Deshalb betont Ulrich Hoppe, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer in London, ein „No Deal“, bleibe auch weiterhin eine Möglichkeit. Zwar ist die Stimmung bei den deutschen Unternehmen am heutigen Freitag besser als noch vor einigen Wochen, als 87 Prozent in einer Meinungsumfrage erklärten, sie glaubten nicht an einen positiven Abschluss der Brexit-Verhandlungen bis Ende März 2019.
Phase 2 ist der schwierige Teil, die Risiken groß
Doch Hoppe warnt, es dürfe nicht vergessen werden, dass die erste Runde relativ einfach war. Erst jetzt kommen die eigentlichen Hürden: „Die zweite Phase birgt viele Risiken, denn nun geht es um jede Menge Einzelfragen, die innerhalb der nächsten neun bis zwölf Monate gelöst werden müssen“. Dazu zählen neben der grundsätzlichen Frage nach dem künftigen Handelsmodell vor allem die Sicherung von Lieferketten, der Zugang zu Fachkräften aus der EU und die Frage nach Zöllen und den künftigen Grenzkontrollen. Die Unternehmen fürchten lange Verzögerungen bei der Grenzabfertigung, kostspielige Zeitverlusten bei der Produktion und kilometerlange LKW-Staus im Grenzgebiet. Da die britische Regierung nach dem Brexit aus dem Binnenmarkt und der Zollunion auszusteigen will, wollen die Firmenchefs wissen, mit welchen Steuern, Zöllen und Produktstandards sie künftig im Handel mit der EU rechnen müssen, denn rund 40 Prozent der britischen Ausfuhren gehen in die EU, dem größten Exportmarkt Großbritanniens. „Es muss absolute Klarheit geschaffen werden“, so Adam Marshall, Chef der britischen Handelskammern BCC.
Edwin Morgan vom Institute of Directors (IoD), dem Verband der leitenden Angestellten, lobt zwar, dass ein ganz harter Brexit, bei dem der Warenaustausch zwischen der EU und Großbritannien nur noch zu den Bedingungen der Welthandelsorganisation WTO möglich gewesen wäre, nun vermieden wurde. In den nächsten Monaten müsse die Regierung aber noch viel stärker auf die Bedürfnisse und Sorgen der Industrie eingehen und da „wünschen wir uns eine Intensivierung des Dialogs, häufigere Gespräche und einen Austausch, in dem es um spezifische Details – für einzelne Branchen – gehen muss“.
Keine Zeit zu verlieren
EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte wiederholt betont, nach dem Ausstritt aus der Zollunion und dem EU-Binnenmarkt bleibe als Muster für die künftigen Handelsbeziehungen eigentlich nur ein Freihandelsabkommen nach dem kanadischen Modell übrig. Doch weil das keine Dienstleistungen einschließt, ist es vor allem für die Finanzindustrie und die Banken, die in der britischen Wirtschaft eine dominante Rolle spielen, wertlos.
Kein Wunder also dass der Chef der Royal Bank of Scotland (RBS) Ross McEwan kühl auf den Brüsseler Kompromiss reagierte: „Wir werden uns so verhalten, als werde es keinen Brexit-Deal geben, der für unsere Branche von Nutzen ist. Wir dürfen keine Zeit verlieren sondern müssen uns darauf vorbereiten, dass wir unsere Kunden auch weiter betreuen können – ganz egal was passiert.“
Auch die Wall-Street-Banken Goldman Sachs und Morgan Stanley planen, schon bald mit der Verlagerung von Personal zu beginnen. Miles Celic, Chef der Lobbyorganisation TheCityUK fordert dennoch: „Jetzt müssen sich die EU und Großbritannien dringend auf ein umfassendes Freihandelsabkommen konzentrieren, das Waren und Dienstleistungen einschließt und auf der gegenseitigen Anerkennung von regulatorischen Standards beruht“. Das Prinzip Hoffnung regiert bei den Lobbyisten eben immer noch, aber manche Unternehmer wollen nicht mehr warten.
Dringende Klärung der Übergangsperiode
Wichtigstes Ziel für die verarbeitende Wirtschaft, die langfristige Investitionsentscheidungen treffen muss, ist jetzt die baldige Klärung der Bedingungen für die Übergangsperiode. 60 Prozent der Mitgliedsfirmen des Industrieverbandes CBI sind fest entschlossen, bis Ende März ihre Notfallpläne für einen harten Brexit umzusetzen, wenn sie bis dahin keine konkreten Zusicherungen erhalten haben, wie es in der Zeit nach dem offiziellen Austrittstermin Ende März 2019 weitergeht. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Rom brennt. Die Unternehmen müssen dringend wissen, wie die Transitphase aussehen wird”, fordert CBI-Präsident Paul Drechsler.
Unzufrieden ist der CBI auch, weil der künftige Status der EU-Bürger in Großbritannien und der britischen Bürger in der EU noch nicht ausreichend abgesichert ist: „Das hat Priorität. Es muss unmissverständlich festgelegt werden, dass diese Menschen in den Ländern, in denen sie leben, willkommen sind – und zwar ganz unabhängig davon, wie der endgültige Ausgang der Verhandlungen ist. Es darf nicht sein, dass sie zum zweiten Mal ein Weihnachtsfest durchleben, während dessen sie um ihren Status bangen müssen“, betont der stellvertretende CBI-Generaldirektor Josh Hardie.
Auch beim Verband der verarbeitenden Industrie EEF macht man sich diesbezüglich große Sorgen. Eine Forderung, die nicht nur aus Menschlichkeit resultiert, weil man die EU-Bürger als Arbeitskräfte schließlich dringend braucht. „Schon jetzt bemerken unsere Mitgliedsfirmen, dass die Zahl der Bewerber aus den EU-Staaten zurückgeht. Außerdem sind bereits viele EU-Bürger in ihre Heimat zurückgekehrt. Im Südwesten Englands verkaufen zahlreiche Ausländer ihre Häuser und bereiten sich so auf ihren Abschied vor“, warnt Mark Swift vom EEF.
Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte
Jedes fünfte aus Deutschland exportierte Auto geht laut Branchenverband VDA ins Vereinigte Königreich. Präsident Matthias Wissmann warnte daher vor Zöllen, die den Warenverkehr verteuerten. BMW etwa verkaufte in Großbritannien 2015 rund 236 000 Autos - über 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Mercedes waren es 8 Prozent, bei VW 6 Prozent. BMW und VW haben auf der Insel zudem Fabriken für ihre Töchter Mini und Bentley. Von „deutlich geringeren Verkäufen“ in Großbritannien nach dem Brexit-Votum berichtete bereits Opel. Der Hersteller rechnet wegen des Entscheids 2016 nicht mehr mit der angepeilten Rückkehr in die schwarzen Zahlen.
Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien der viertwichtigste Auslandsmarkt nach den USA, China und Frankreich. 2015 gingen Maschinen im Wert von 7,2 Milliarden Euro auf die Insel. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte weniger gut. In den ersten zehn Monaten 2016 stiegen die Exporte nach Großbritannien dem Branchenverband VDMA zufolge um 1,8 Prozent gemessen am Vorjahr. 2015 waren sie aber noch um 5,8 Prozent binnen Jahresfrist gewachsen. Mit dem Brexit sei ein weiteres Konjunkturrisiko für den Maschinenbau dazugekommen, sagte VDMA-Präsident Carl Martin Welcker im Dezember.
Die Unternehmen fürchten schlechtere Geschäfte wegen des Brexits. Der Entscheid habe bewirkt, dass sich das Investitions- und Konsumklima in Großbritannien verschlechtert habe, sagte jüngst Kurt Bock, Präsident des Branchenverbands VCI. Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien ein wichtiger Abnehmer gerade von Pharmazeutika und Spezialchemikalien. 2016 exportierten sie Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich, rund 7,3 Prozent ihrer Gesamtexporte.
Für Elektroprodukte „Made in Germany“ ist Großbritannien der viertgrößte Abnehmer weltweit. 2015 exportierten deutsche Hersteller laut Branchenverband ZVEI Waren im Wert von 9,9 Milliarden Euro in das Land, 9,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich nicht mehr so gut. Nach zehn Monaten verzeichnet der Verband ein Plus bei den Elektroausfuhren von 1,7 Prozent gemessen am Vorjahr. Grund für die Eintrübung seien nicht zuletzt Wechselkurseffekte wegen des schwachen Pfunds, sagte Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des ZVEI.
Banken brauchen für Dienstleistungen in der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Mit dem Brexit werden Barrieren befürchtet. Deutsche Geldhäuser beschäftigten zudem Tausende Banker in London, gerade im Investmentbanking. Die Deutsche Bank glaubt indes nicht, dass sie ihre Struktur in Großbritannien „kurzfristig wesentlich“ ändern muss. Die Commerzbank hat ihr Investmentbanking in London schon stark gekürzt. Um viel geht es für die Deutsche Börse. Sie will sich mit dem Londoner Konkurrenten LSE zusammenschließen. Der Brexit macht das Projekt noch komplizierter.
Der grenzüberschreitende Handel mit der Republik Irland ist für die britischen Unternehmen weniger wichtig als für die irischen Mittelständler und Farmer, für die Großbritannien der wichtigste Exportmarkt ist. Doch sie alle fürchten, dass die Ungereimtheiten und Wiedersprüche der Kompromissformel für die Grenze, sich mittelfristig noch als Problem erweisen könnte. Denn eine „harte Grenze“ zwischen Nordirland und der Republik Irland ist nach wie vor nicht ausgeschlossen.
Einzige Lösung: Großbritannien müsste die Regeln des Binnenmarkts und der Zollunion weiter anwenden – doch dass ist für die Brexitiers nicht akzeptabel. Großbritannien könnte keine neuen Freihandelsabkommen abschließen und bliebe de facto in der EU. Spätestens am Ende der zweiten Verhandlungsphase kommt es also im Hinblick auf die Grenzfrage zum Schwur – „konstruktive Ambiguität“ wie bisher wird dann nicht mehr funktionieren.