Nach dem Brexit ist vor der Urlaubssperre. Die wurde in Brüssel verhängt, dort müssen die engsten Mitarbeiter von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den Sommer durcharbeiten. Verlangt werden neue Ideen für ein neues Europa. Die Beamten sollen in ihren Überlegungen möglichst konkret werden. „Es geht um die zwei, drei wichtigsten Fragen, die Europa lösen muss“, heißt es. Was immer das bedeuten mag.
Viele Menschen weit weg von der Blase des Brüsseler Europaviertels machen sich auch so ihre Gedanken. Sie kreisen allerdings nicht um das Anliegen, den Kontinent zu einen. Eher folgen sie dem neuen europäischen Motto, das der Brexit auf spektakuläre Weise bestätigt hat: Jeder ist sich selbst der Nächste. „Jetzt geht der nationale Wettstreit auf dem Kontinent erst richtig los“, sagt ein deutscher Spitzenbeamter.
Theresa May wird neue Premierministerin
Gegen May war zum Schluss nur noch eine einzige Konkurrentin bei den Konservativen im Rennen: Energie-Staatssekretärin Andrea Leadsom. Die zog sich aber am Montag plötzlich aus dem Rennen um die Nachfolge Camerons zurück. Ihre Begründung: Das Land brauche rasch eine neue Führung und keinen langen Wahlkampf vor einer Urwahl der Parteibasis. Noch am späten Nachmittag wurde May offiziell zur Chefin der Konservativen Partei ernannt.
Die Referenzen der 59-Jährigen sind ausgezeichnet: Die seit 2010 amtierende Innenministerin in zwei Cameron-Kabinetten verantwortet schwierige Themen wie Einwanderung und Terrorabwehr. Mitarbeiter beschreiben sie als kompetent, freundlich und sehr ehrgeizig. Damit stehen die Zeichen für eine Einigung der zerstrittenen Tories gut. May will die Rolle der Versöhnerin übernehmen.
Nein. May möchte als Premierministerin sicherstellen, dass Großbritannien die EU verlässt. Es soll keine Versuche geben, „durch die Hintertür“ doch in der Union zu bleiben. „Brexit bedeutet Brexit - und wir werden einen Erfolg daraus machen“, betonte sie. May plädierte während des Brexit-Wahlkampfs für den Verbleib in der EU - aber das tat sie derart diplomatisch geschickt, dass es kaum auffiel.
Viel schneller als gedacht - an diesem Mittwoch. Cameron hatte nach seiner Niederlage beim Brexit-Referendum seinen Rücktritt erst für September in Aussicht gestellt. Am Montagnachmittag kündigte er nun an, dass seine letzte Kabinettssitzung schon an diesem Dienstag sein werde - und er am Mittwoch Königin Elizabeth II. seinen Rücktritt anbieten wolle. Die Queen ist derzeit nicht in London und kommt erst Mittwoch wieder. Nur sie kann Cameron entlassen - eine reine Formsache.
Hier zeichnet sich ein Hauen und Stechen ab. Parteichef Jeremy Corbyn weigert sich zu gehen. Doch jetzt hat sich die Abgeordnete Angela Eagle bereit erklärt, den 67-Jährigen in einer Urwahl der Parteibasis herauszufordern. Doch das ist ein Risiko, Corbyn wurde erst im September 2015 von der Basis an die Macht gewählt, mit rund 60 Prozent der Stimmen. Der Altlinke Corbyn kann nach wie vor auf breite Unterstützung der Basis hoffen.
Anders ist die Ankündigung des britischen Finanzministers George Osborne jedenfalls nicht zu verstehen. Der Schatzkanzler hat eine Senkung der britischen Unternehmensteuer von derzeit 20 auf unter 15 Prozent in Aussicht gestellt. Offenbar will Osborne kurzfristig eine drohende Rezession nach dem Brexit abwenden, mittelfristig die britische Verhandlungsposition gegenüber der EU stärken und langfristig sein Land zu einem attraktiven Standort für ausländische Investoren machen. Sein Ziel sei ein „superwettbewerbsfähiger“ Wirtschaftsstandort, so Osborne. Oder eben das führende „Offshore-Zentrum der Welt“, wie Finanzinvestor George Soros die Londoner Pläne umschreibt.
Britain first
Zunächst schien Großbritannien nach dem Referendum überhaupt keinen Plan zu haben. Jetzt liegt einer vor, der an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig lässt: Britain first. Exporteure sollen gezielt von der starken Abwertung des Pfund profitieren, das im Vergleich zum Dollar auf den tiefsten Stand seit 30 Jahren gefallen ist. Die britische Notenbank hat bereits klargemacht, dass sie dem Verfall der heimischen Währung zusehen wird, solange sich die Volatilität an den Märkten in Grenzen hält. Zudem will sie mit sinkenden Zinsen und viel Liquidität – die Bank hält 250 Milliarden Pfund bereit – dafür sorgen, dass die Banken mehr Kredite an Haushalte und Unternehmen vergeben und so die Konjunktur ankurbeln.
Brisanz birgt aber besonders Osbornes Steuerplan, der einen europaweiten Unterbietungswettlauf in Gang setzen und alle sozialdemokratischen Träume von harmonisierten Steuersätzen beenden könnte. Der französische EU-Kommissar Pierre Moscovici warnt bereits vor einem „ungezügelten Steuerwettbewerb“. Der mutmaßliche französische Präsidentschaftskandidat Alain Juppé hingegen ist der Meinung, dass Frankreich „reagieren“ und den eigenen Steuersatz senken müsse. In Irland wiederum schlägt die Industrielobby Alarm, weil sie sich um die eigene Standortattraktivität sorgt. „Früher konkurrierten vor allem die Niederlande und Singapur als Niedrigsteuerländer mit uns“, sagt Gerard Brady, Chefvolkswirt des irischen Unternehmerverbandes Ibec, „nun auch Großbritannien“. Brady fordert, seine Regierung solle umgehend die Kapitalertragsteuer für Firmen reduzieren.
Verzweiflung oder Kalkül?
Ist der Discountversuch der Briten nun eine Verzweiflungstat oder ein geschickter Poker, auch in den bevorstehenden Verhandlungen mit der EU? In Berlin und Brüssel neigt man zur ersten Interpretation. „Steuersenkungen in Großbritannien wären eine Panikreaktion. Der Wechselkurs des Pfund und der konkrete Zugang zum Binnenmarkt sind unterm Strich viel relevanter, wenn es um Standortverlagerungen geht“, sagt SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel. Noch schärfer, beinahe beleidigt, ist der Ton in Brüssel. „Die Briten merken doch, dass sie absaufen“, kommentiert ein hoher EU-Beamter. Allmählich spüre man in London wohl, wie lange die Periode der Unsicherheit dauern könne, wie teuer der Brexit die Briten zu stehen kommen könne.
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
Tatsächlich gibt es ökonomisch durchaus handfeste Gründe für den Steuervorstoß von Osborne. Quer über den Kontinent wird seit Jahren schon ein Mangel an Investitionen beklagt. Die EU-Kommission hat mehrfach große Investitionsoffensiven angekündigt – und kleine angestoßen. Dabei geht es, so Osbornes Theorie, viel einfacher: Ist der Steuersatz niedrig, haben die Unternehmen am Jahresende mehr in der Kasse. Markt und der Wettbewerb schleusen das Geld in Maschinen, Anlagen, Arbeitsplätze. Die Wirtschaft boomt (siehe Kommentar Seite 32). Allerdings ist das Vereinigte Königreich bereits heute eine der größten Steueroasen der Welt. Viele Großunternehmen versteuern ihre Gewinne zu niedrigsten Sätzen in der Karibik oder auf dem britischen Inselchen Jersey im Ärmelkanal. Unabhängig davon befürchten Ökonomen neue Schulden und weitere Kürzungen, die die Inlandsnachfrage hemmen. Und schließlich ändert eine niedrige Körperschaftsteuer nichts am neuen Wettbewerbsnachteil: Nach einem EU-Austritt hat Großbritannien ausländischen Konzernen und Banken ausgedient als Brückenkopf für den Handel in die Union.
Großbritannien als Steueroase
Richard Murphy, Steuerexperte an der Londoner City University, hält eine Senkung noch aus einem anderen Grund für kontraproduktiv: „Sätze von weniger als 15 Prozent könnten dazu führen, dass Großbritannien von der restlichen EU als Steueroase eingestuft und auf eine schwarze Liste gesetzt wird.“ Der ökonomische Ertrag dürfte sich in Grenzen halten, wenn Unternehmen fürchten müssen, bei der Umleitung von Gewinnen oder bei einer Verlagerung des Firmensitzes nach Großbritannien von ihren heimischen Steuerbehörden besonders streng unter die Lupe genommen zu werden.
Unklar bleibt zudem, wer für das Steuergeschenk an Großkonzerne zahlen müsste. Voriges Jahr hat die Körperschaftsteuer dem britischen Staat rund 43 Milliarden Pfund eingebracht, jeder Prozentpunkt weniger dürfte rund zwei Milliarden Pfund kosten. Gelingt es der Regierung nicht, dadurch weit mehr Unternehmen anzulocken, müssen die Bürger diese Differenz durch höhere Steuern oder durch den Verzicht auf staatliche Leistungen ausgleichen – vermutlich wenig populär in einer Bevölkerung, die seit Jahren unter einem strengen Sparkurs der Regierung ächzt und ihrem Unmut über schon existierende Steuertricks für Konzerne häufig Luft macht.
Schließlich die Frage aller Fragen: Lässt sich mit niedrigen Steuern wirklich die drohende Firmenabwanderung stoppen? Blickt man in den Terminkalender eines großen Vermögensverwalters, wird man die Frage wohl verneinen müssen. Darin sind, Steuersenkung hin oder her, mehrere Telefontermine mit Firmen eingetragen, die sich aus Großbritannien zurückziehen wollen.
Osborne - ein Minister auf Abruf
Skepsis ist also angebracht, auch mit Blick auf die großspurig angekündigten chinesischen Investoren. Chris Williamson, Chefvolkswirt des Finanzdienstleisters Markit Economics, meint: „Es wird für Großbritannien nach dem Austritt aus der EU sehr schwierig werden, Handelsbeziehungen mit China weiter anzukurbeln.“ Chinas Präsident Xi Jinping hat stets betont, dass er sich den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU wünscht. Ein Austritt würde das Land weit weniger attraktiv für die Chinesen machen.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Hinzu kommt: Osborne, ein enger Vertrauter von Premierminister David Cameron, ist ein Finanzminister auf Abruf. Nach Camerons Abschied im September dürfte er nicht Finanzminister bleiben. „Seine Ankündigung ist bedeutungslos. Hier greift ein Kontrollfreak nach dem letzten Strohhalm“, sagt Richard Murphy. Innenministerin Theresa May, die Cameron am heutigen Mittwoch als Premierministerin nachfolgen soll, hat Osbornes Steuerpläne bisher wohlweislich nicht kommentiert.
Dennoch offenbart allein die Debatte über solche Pläne, dass Europa, je nach Sichtweise, auf eine Phase des Steuerwettbewerbs und -egoismus zusteuert. Entsprechend aufmerksam haben deutsche Regierungskreise die britische Ankündigung verfolgt. Früher hat Kanzlerin Angela Merkel zwar selbst für mehr Steuerwettbewerb in Europa geworben. Doch heute ist Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), verantwortlich für einen Unternehmensteuersatz von knapp 30 Prozent, „not amused“ über die britischen Pläne, wie es aus seinem Umfeld heißt.
Der Minister will sich von Osborne dessen Pläne persönlich erläutern lassen. Es dürfte kein angenehmes Gespräch werden. Schon das aktuelle britische Steuerniveau von 20 Prozent ärgert Schäuble. Nach deutschem Recht beginnt Steuerdumping eines anderen Landes bereits bei einem Satz von weniger als 25 Prozent. Seit Langem versucht Schäuble, Irland zur Anhebung seines Minisatzes zu bewegen. Auch das dürfte Osbornes Initiative erschweren.
Europäischer Mindeststeuersatz
„Ich halte nichts von Steuerdumping“, sekundiert Hessens Finanzminister Thomas Schäfer (CDU), dessen Finanzstandort Frankfurt in direktem Wettbewerb zur Londoner City steht. Schäfer fordert einen „europäischen Mindeststeuersatz“, um „den schädlichen Kampf um den niedrigsten Steuersatz zu verhindern“. So ein Mindestniveau müsste in der EU aber einstimmig beschlossen werden. Und das ist sehr unwahrscheinlich.
Einige Stimmen sind auch dankbar für die britische Vorlage. Lutz Goebel, Präsident des Verbandes der Familienunternehmer, sagt: „Deutschland darf den Ideenwettstreit um Steuermodelle nicht scheuen.“ Auch die Bundesrepublik könne, so Goebels Ableitung, einiges tun. Eine Option: Eigenkapital dem Fremdkapital steuerlich gleichstellen – sprich: die (fiktiven) Zinsen als Betriebsausgabe absetzbar machen – und damit Gewinne wie Eigenkapitalbildung stimulieren.
Immerhin, die vermutlich aus Europa scheidenden Briten haben noch einmal gezeigt, dass sie Debatten in Europa lostreten können. „Dass wir nun über Steuerpolitik diskutieren, dafür bin ich dankbar“, sagt Michael Eilfort von der Stiftung Marktwirtschaft, einer Denkfabrik, der seit Jahren erfolglos Reformvorschläge vorträgt. Immerhin also: eine Idee. Man lernt in diesen Tagen in Europa, für sehr wenig dankbar zu sein.