Brexit "Ein Umdenken in Großbritannien ist möglich"

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Ernüchterung und Umdenken

Auch dann nicht, wenn eine breite Ernüchterung und ein Umdenken stattfindet?

Nein. Ich halte dann allenfalls eine breitere Reform der gesamten EU – auch im Hinblick auf die Freizügigkeit anderer EU-Bürger und die Einwanderung generell – für denkbar. Nur dann kann man dem britischen Volk die Notwendigkeit für ein zweites Referendum klarmachen. Denn der Ärger vieler Briten über den wirtschaftlichen Niedergang und die De-Industrialisierung, die Häuserknappheit und andere sozialen Missstände ist ja weiterhin sehr ausgeprägt. Ein zweites Referendum könnte meines Erachtens sogar noch eine größere Mehrheit für den Brexit erbringen als am 23. Juni. Solange die strukturellen Probleme Großbritanniens ungelöst bleiben, ist nicht mit einer Zustimmung für den EU-Verbleib zu rechnen.

Durchaus möglich, dass es in Großbritannien nach dem Führungswechsel bei den Tories Neuwahlen geben wird. Dann könnte ja eine der Parteien mit dem Versprechen in den Wahlkampf ziehen, den Brexit doch noch zu stoppen.

Wie wahrscheinlich sind Austritte weiterer EU-Länder?
Die Chefin der rechtsextremen Front National, Marine Le Pen Quelle: dpa
Chef der rechtspopulistischen Partei für die Freiheit, Geert Wilders Quelle: AP
Anhänger der ungarischen, rechtsextremen Partei Jobbik verbrennen eine EU-Flagge Quelle: dpa
FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer mit dem ehemaligen Präsidenten Österreichs, Heinz Fischer Quelle: REUTERS
Finnland Quelle: dpa
PolenWährend die nationalkonservative Warschauer Regierung betont, sie werde keinesfalls dem Vorbild in Großbritannien folgen, haben verschiedene rechtspopulistische und nationalistische Gruppen einen „Pol-Exit“ verlangt. So ist der rechtsnationale Europaabgeordnete Janusz Korwin-Mikke von der Partei Korwin seit langem der Meinung, die EU müsse aufgelöst werden. Den Einzug ins Warschauer Parlament verfehlte er allerdings im vergangenen Jahr. Angesichts der hohen Zustimmung, die die EU-Zugehörigkeit in Polen seit Jahren genießt, dürfte ein Referendum ohnehin zum Scheitern verurteilt sein. Ein landesweites Referendum kann in Polen unter anderem dann durchgesetzt werden, wenn die Antragsteller 500.000 Unterschriften sammeln. Quelle: REUTERS
Italiens Regierungschef Matteo Renzi Quelle: dpa

Solche Versuche könnte es geben. Die Liberaldemokraten haben bereits gesagt, dass sie im Falle von vorgezogenen Neuwahlen oder beim nächsten regulären Termin im Jahr 2020 für einen Wiedereintritt in die EU werben wollen. Fraglich ist aber ob die Labour-Partei dem folgen wird, denn sie hat in ihren ehemaligen Hochburgen massiv an Unterstützung eingebüßt. Ohne auf die Brexit-Befürworter Rücksicht zu nehmen, kann Labour im Moment nicht gewinnen.

Schottlands Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon möchte aufgrund des überwältigenden Pro-EU-Votums ihrer Landsleute einen schottischen Sonderstatus in der EU aushandeln – ist das möglich?

Aus jetziger Sicht ist so etwas weder auf EU-Ebene noch aufgrund der britischen Verfassung vorgesehen. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass die Schotten mit diesem Vorstoß Erfolg haben werden. Allerdings streiten sich die Experten darüber, ob das schottische Parlament und die Regionalparlamente von Wales und Nordirland dem Brexit zustimmen müssen. Konkret würde das, wenn das Unterhaus in London eines Tages das Gesetz über den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), den European Communities Act von 1972, abschaffen möchte. Wenn dieses Gesetz in Westminster gekippt wird, dann ist nämlich die Frage, ob dem die Regionalparlamente von Schottland, Wales und Nordirland zustimmen müssen. Darüber herrscht Unklarheit und auch das ist ein Teil der momentanen verfassungsrechtlichen Krise. Ungeachtet dessen werden die Schotten aber weiter versuchen Druck ausüben, damit sie nicht zum EU-Austritt gezwungen werden.  

Aber eigentlich geht das nur im Falle einer Abspaltung Schottlands vom Vereinigten Königreich?

Ja so ist es. Vor zwei Jahren im Vorfeld des schottischen Unabhängigkeitsreferendums wurde viel über den EU-Status von Schottland diskutiert. Damals sagten sowohl der EU-Rat als auch die EU-Kommission, dass ein unabhängiges Schottland nicht automatisch Mitglied der EU sondern ein Kandidatenland wäre und dann später als unabhängiger Staat seinen Beitritt zur EU aushandeln müsste. Das Problem dabei: 2014 hatte die schottische Regierung gesagt, im Falle einer Mehrheit für die Unabhängigkeit würden mindestens zwei weitere Jahre vergehen bis diese tatsächlich umgesetzt werden kann. Das bedeutet also: Schottland würde erst einmal noch weitere zwei Jahre Teil des Vereinigten Königreichs bleiben. Die EU hat immer betont, nur ein Land das tatsächlich unabhängig ist, könne eine eigene Mitgliedschaft beantragen. Also müsste Schottland erst austreten und dann verhandeln. Das aber würde wohl viele Jahre dauern. In der Zwischenzeit wäre Schottland weder Teil der EU noch Großbritanniens, das wiederum dürfte der schottischen Wirtschaft schaden.

Wie geht es dann weiter?

Schottland wird erst einmal alles daran setzten, dass Großbritannien der EU nicht voll und ganz den Rücken kehrt. Angesichts des niedrigen Ölpreises und des Fehlens großer Industrien und wichtiger Wirtschaftszweige wäre eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich nämlich nicht so einfach. Ich halte die Wahrscheinlichkeit für die Unabhängigkeit heute für geringer als 2014. Dennoch wird Sturgeon weiterhin mit einem zweiten schottischen Referendum drohen, um den Druck auf London aufrechtzuerhalten.

Also war der Besuch Sturgeons in Brüssel nur eine große Show?

Genau. Dieser Besuch war in erster Linie für das heimische Publikum in Schottland und England bestimmt. Ich glaube auch nicht, dass es noch zu vielen weiteren Treffen mit EU-Politikern kommen wird.

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