Brexit Fünf Gefahren für die weitere Einheit der EU-27

27 EU-Regierungen haben vor dem Start der Brexit-Verhandlungen demonstrative Einheit und Entschlossenheit gezeigt. Doch ganz so einig könnte es nicht mehr lange bleiben bei den Brexit-Verhandlungen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Die Regierungschefs der EU sitzen in Brüssel beim Brexit-Gipfel der Europäischen Union an einem runden Tisch. Quelle: dpa

Selten hat sich die EU so einig gezeigt wie am Samstag in Brüssel. Innerhalb von Minuten beschlossen 27 EU-Regierungen die Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen. Doch der demonstrativ vorgetragene und gefeierte Eindruck der Einheit kann nicht über die Probleme hinwegtäuschen. Zum einen ist die Einigkeit auch dadurch bewirkt, dass mit Großbritannien der sicher schwierigste EU-Partner der letzten Jahrzehnte gar nicht mehr dabei war und aus der Union ausscheidet. Die Einheit ist also mit dem Verlust von 15 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU verbunden. Zum anderen sind sich EU-Diplomaten einig, dass das Kunststück darin bestehen wird, diese Einheit gegenüber Großbritannien bis zum angepeilten Austritt 2019 durchzuhalten. Und dabei gibt es große Fragezeichen.

Französische Präsidentenwahl

Das erste Risiko folgt bereits am 7. Mai - also in nur acht Tagen. Sollte bei der französischen Präsidentenwahl die rechtsextreme Marine Le Pen gewählt werden, sind die Brüsseler Beschlüsse nämlich sofort Makulatur. Das räumten EU-Diplomaten am Samstag auch ein. Denn Le Pen will Frankreich selbst aus dem Euro und der EU führen. Sie dürfte also kaum eine konsequent harte Haltung gegenüber Großbritannien mittragen, heißt es in Brüssel.

Geldfragen

Als weiteres Risiko für die Einheit werden paradoxerweise schnelle Fortschritte in den Austrittsgesprächen mit Großbritannien angesehen. Denn derzeit ist die Einheit der EU-27 auch deshalb so solide, weil alle am gleichen Strang ziehen. Nur wenn die verbleibenden Mitgliedsstaaten zusammenhalten, können sie gegenüber Großbritannien etwa durchsetzen, dass es seine eingegangenen Finanzverpflichtungen in der EU einhält - auch wenn diese noch einige Jahre nach einem Austritt 2019 bezahlt werden müssen. Derzeit haben Geber- und Nehmerländer den seltenen Fall, dass ihre Interessen übereinstimmen: Staaten wie Deutschland müssen fürchten, dass sie selbst mehr in die EU-Kasse zahlen müssen, sollte Großbritannien seine Zusagen in der Finanzperiode bis 2020 nicht mehr einhalten. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat dies aber bereits abgelehnt. Länder wie Polen und Griechenland müssen dagegen fürchten, dass die Zuwendungen, die sie aus der EU erhalten, beschnitten werden, wenn Großbritannien ausfällt.

Aber wenn Premierministerin Theresa May zusagen sollte, weiter zu zahlen, wäre dieses einigende Band zwischen völlig unterschiedlichen EU-Staaten zerschnitten.

Rechte der EU-Bürger

Dasselbe gilt für die Rechte der EU-Bürger. Die nationalkonservative polnische Regierung zeigt sich derzeit auch deshalb kompromissbereiter als noch vor einem Jahr, weil sie um die Rechte ihrer Landsleute auf der britischen Insel fürchtet. Denn die als hoch empfundene Zahl an osteuropäischen EU-Bürgern wird als ein Grund dafür angesehen, dass die Briten im Juni 2016 für den Brexit stimmten. Polen kann die Rechte seiner Landsleute aber nur durchsetzen, wenn es mit Schwergewichten wie Deutschland und Frankreich am selben Strang zieht. Der Druck könnte sich sogar noch verstärken, sollte Emmanuel Macron am 7. Mai zum französischen Präsidenten gewählt werden. Denn er hat Sanktionen gegen Polen im Streit um umstrittene Rechtsstaatsreformen in dem Land gefordert.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban deutete am Samstag bereits an, dass er im Streit um die angedrohte Schließung einer US-Universität in seinem Land einlenken will. Aber niemand weiß, wie sich die traditionell London nahestehende polnische Regierung verhalten wird, wenn die Sorgenpunkte Geld und Bürger ausgeräumt sind.

Konkurrenz um EU-Agenturen

Am Samstag deutete sich ein offener Streit an, der in Wahrheit seit Wochen hinter den Kulissen zwischen vielen der 27 EU-Regierungen tobt. Denn etliche Staaten konkurrieren im Rennen um Jobs und Einrichtungen, die sich im Zuge des Brexit aus London auf den Kontinent verlagern werden. Dazu gehören die EU-Bankenregulierungsbehörde (EBA) und die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA). "Die Agenturen können nicht in London bleiben. Sie müssen auf den Kontinent", betonte Juncker. Österreichs Kanzler Christian Kern machte deutlich, dass sein Land den Sitz der EMA beansprucht. Deutschland gilt dabei als einer der Konkurrenten.

Bei der EBA konkurrieren Frankreich und Deutschland mit kleinen Ländern wie Luxemburg und Irland. Alle vier Länder würden auch gerne britische und amerikanische Banken aus Großbritannien anlocken. Und sollten die osteuropäischen Staaten ganz leer ausgehen, dürfte dies auch für regionale Missstimmung sorgen.

Streit beim Freihandelsabkommen

Die Einheit der EU-27 wird auf jeden Fall auf den Prüfstand gestellt, wenn die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien abgeschlossen sind. Denn dann muss ein neues Freihandelsabkommen mit der britische Regierung ausgehandelt werden. Firmen und Regierungen auf dem Kontinent berichten schon heute über "unmoralische Angebote" aus London - also Offerten, dass man doch gegenüber einzelnen EU-Staaten und -Industrien verständnisvoll sein könnte, wenn diese britischen Forderungen entgegenkämen. Und Staaten wie Griechenland, Portugal und Deutschland haben völlig unterschiedliche wirtschaftliche Interessen. Auch dies erklärt, warum sich die EU-Regierungen zumindest derzeit im monatlichen Rhythmus Treue und Einheit schwören.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%