Brexit Nach der Abstimmung beginnt der Kampf um Europa

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"Lasst uns mit denen nicht alleine"

In Frankreich, den Niederlanden und Dänemark wird Großbritanniens möglicher Abschied nicht nur bei den EU-skeptischen Populisten Wirkung entfalten, sondern auch bei den etablierten politischen Eliten. Gerade in Paris wird Großbritannien als einziges Land geschätzt, das in weltpolitischen Fragen einen strategischen Blick hat – wie Frankreich selbst. Beide Länder haben als frühere Kolonial- und Großmächte ähnliche historische Erfahrungen und entsprechende Horizonte. Vor allem militärisch sind Frankreich und Großbritannien eng miteinander verbunden.

„Das Bedauern im Falle des Brexit würde daher auch in Frankreich überwiegen“, sagt Techau, „nur in ordnungs- und wirtschaftspolitischen Fragen wäre man vielleicht hier und da erleichtert.“ Laut Umfrage würden 32 Prozent der Franzosen den Abschied Großbritanniens aus der EU positiv aufnehmen. Der höchste Wert von zehn untersuchten Ländern. Der vermutliche Grund: Die französischen Eliten - und nicht nur die - sind sehr viel staatsgläubiger gesinnt als die britischen und misstrauen traditionell der angelsächsischen  Wirtschaftsmentalität.

Die wiederum steht der deutschen und niederländischen deutlich näher. Die Deutschen, so Freudenstein, hätten Angst davor, im Falle des Brexit von einem „Club Med“ in wirtschaftspolitischen Fragen überstimmt zu werden. „Wir würden uns mit den Franzosen allein gelassen fühlen.“ Das gelte aber auch für die Franzosen in anderen Fragen: „Überhaupt pilgern alle möglichen Leute derzeit nach London und sagen: Lasst uns nicht mit den xy alleine.“

Was die Briten an der EU stört
Mittelstand könnte beim Brexit-Referendum am 23. Juni den Ausschlag geben Quelle: dpa, Montage
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Besonders stark ist dieses Gefühl in den Niederlanden verwurzelt. „Die Niederlande sind auf dem gesamten Kontinent das am stärksten auf Großbritannien fixierte Land“, sagt Techau. „Die würden am meisten leiden, denn ihre Weltsicht ist angelsächsisch geprägt. Sie sehen sich mentalitätsmäßig eher nach England als nach Deutschland orientiert, obwohl sie tatsächlich wirtschaftlich voll von Deutschland und kaum von Großbritannien abhängen.“

Die Niederlande waren schon bei der Gründung der damaligen EWG in den 1950er Jahren sehr viel weniger begeisterte Europäer als ihre belgischen Nachbarn, bei denen auch heute kaum Rufe nach einem Referendum zu hören sind. Vor 1973 waren die Niederlande der wichtigste Fürsprecher für den Beitritt Großbritanniens. Im Falle eines Brexit würden sich die Niederländer eher zähneknirschend an Deutschland orientieren, vermutet Techau, so wie sie es immer getan haben. „Wenn es darauf ankam, sind sie immer mit Deutschland gegangen, weil es ökonomisch geboten war. Aber stets in dem Wissen, dass es auch noch eine britische Alternative gäbe“, sagt Techau. 

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