Unter anderem liegt das auch daran, dass viele Unternehmen kurz vor der Wahl E-Mails an ihre Mitarbeiter versendet haben und für die Wahl plädiert haben. „Dies ist eine der wohl wichtigsten Wahlen, die wir in unserem Leben haben werden“, schreibt die Chefin einer Londoner Medienagentur in einer E-Mail an ihre Mitarbeiter. Sie wolle allen die Möglichkeit geben, ihre Stimme abzugeben, welche auch immer es ist. Alle Mitarbeiter ihrer Agentur dürfen daher am 23. Juni entweder später zur Arbeit kommen oder früher gehen.
So ernst nehmen viele Londoner das Referendum. „Zwischen acht und zehn Uhr morgens haben wir bereits einen großen Ansturm an Wählern erlebt“, erzählt der Leiter eines Wahllokals im Londoner Stadtteil Whitechapel. Der erste habe sogar bereits um fünf Minuten vor Acht vor der Tür gestanden. Allein in den wenigen Minuten, in denen er erzählt, geben zahlreiche Londoner in den Räumen einer Grundschule ihre Stimme ab.
Großbritanniens Rolle in der Europäischen Union
Nach Deutschland ist Großbritannien die zweitgrößte Wirtschaftsmacht in der EU. Das Königreich steuert ein Sechstel zur gesamten Wirtschaftsleistung aller EU-Staaten von 14,6 Billionen Euro bei. An Finanzdienstleistungen exportiert Großbritannien 20 Milliarden Euro mehr in die EU als es von dort erhält. Auf der Insel befindet sich - geballt im Finanzzentrum London - der viertgrößte Bankensektor der Welt. Die britische Finanzbranche steuerte 2014 fast 250 Milliarden Euro oder rund zwölf Prozent zur britischen Wirtschaftsleistung bei.
Mit rund fünf Milliarden Euro war Großbritannien im gleichen Jahr der drittgrößte Nettozahler in den EU-Haushalt nach Deutschland und Frankreich. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) lagen die Briten mit ihrem Beitrag indes nur auf Platz zehn.
Auf der Bühne der Weltpolitik kann die EU auch dank Großbritanniens mitreden. Denn mit dem Vereinigten Königreich und Frankreich entfallen zwei von fünf Veto-Stimmen im UN-Sicherheitsrat auf die EU. Neben den Franzosen verfügen nur die Briten in der EU über Atomwaffen. Britische Streitkräfte beteiligen sich an EU-Militäreinsätzen, unter anderem an der Operation "Atalanta" am Horn von Afrika, die von Northwood in England gesteuert wird. Als eines von vier EU-Staaten erreicht das Königreich die Nato-Vorgabe, mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben.
Maßgeblich für den Einfluss eines Mitgliedslandes in der EU ist sein Stimmanteil im EU-Rat. Entscheidend ist dabei die Bevölkerungszahl. Damit entfallen auf Deutschland und seine rund 81 Millionen Einwohner mit 15,93 Prozent die meisten Stimmrechte. Knapp hinter Frankreich liegt Großbritannien mit 64 Millionen Bürgern und einem Stimmanteil von 12,73 Prozent auf Platz drei. Damit ein EU-Gesetz angenommen werden kann, müssen bei einer Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit 55 Prozent der 28 Mitgliedsländer, die zugleich 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung stellen, mit "Ja" stimmen.
Von den etwa 55.000 Mitarbeitern der EU-Institutionen haben rund 2000 einen britischen Pass. Im 751 Abgeordnete umfassenden EU-Parlament stammen 73 aus dem Vereinigten Königreich. Mit dem Tory Syed Kamall von den "Europäischen Konservativen und Reformern" sowie dem rechtspopulistischen Ukip-Chef Nigel Farage von der Gruppierung "Europa der Freiheit und direkten Demokratie" führen britische Abgeordnete zwei von acht Fraktionen im Parlament. In der EU-Kommission ist der ranghöchste Brite Jonathan Hill, der für die Regulierung der Finanzmärkte zuständig ist. Insgesamt sind 1126 Briten bei der EU-Kommission beschäftigt, was 3,8 Prozent der Gesamtzahl der Mitarbeiter entspricht. Deutschland stellt 2175 Angestellte und Beamte für die Brüsseler Behörde.
Mit der Aufnahme osteuropäischer Staaten in die EU 2004 hat das Englische Französisch als Gebrauchssprache der EU-Institutionen mehr und mehr verdrängt. Denn in Polen, Tschechien oder im Baltikum ist Englisch als Fremdsprache weitaus stärker verbreitet. Mittlerweile gibt es Sprecher der EU-Kommission, die auf Französisch gestellte Fragen auf Englisch beantworten - was vor Jahren noch ein undenkbarer Affront gewesen wäre. Selbst der aus Frankreich stammende EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici wechselt bei Pressekonferenzen regelmäßig ins Englische.
Auch im eher frankophonen Brüssel haben sich die Belgier auf die englischsprachigen Zugezogenen eingestellt - bei Durchsagen in Bussen und Bahnen, in Restaurants oder Geschäften. Unabhängig von der betonten Zurückhaltung der britischen Regierung bei Fragen der EU-Integration ist die Weltsprache Englisch also fester und verbindender Bestandteil der Europäischen Union.
Trotzdem sind viele froh, wenn alles endlich vorbei ist. Nein, er werde das Ergebnis nicht live verfolgen, erzählt der Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes. Morgen müsse ja schließlich wieder gearbeitet werden. Es klingt, als hoffte er auf ein Stück Normalität. Die wird es aber wohl so schnell noch nicht mal im Fall eines „in“ geben. „Die Diskussionen werden doch noch wochenlang weitergehen“, befürchten viele.
Auch wenn viele es vorziehen, zu schlafen: Für die Banken in der Londoner City wird es auf jeden Fall eine lange Nacht. „Alle großen Investmentbanken haben Nachtschichten eingerichtet“, erzählt ein Investmentbanker. Vor allem an den Devisenmärkten könnte es im Fall eines Brexits zu immensen Verwerfungen kommen, die Handelsräume sollen jederzeit besetzt sein. Clever, wer sich vorher noch mit einem nahrhaften Schottischen Ei oder einem Burrito gestärkt hat. Hoffentlich gibt es diese Gelegenheit demnächst auch noch, denn die nächste Nachtschicht in der City kommt bestimmt, Brexit hin oder her.