Brexit-Verhandlungen Briten wollen EU-Scheidung bis Ende März einreichen

Großbritannien wird im März das Verfahren zum Austritt aus der Europäischen Union einleiten, sagte Premierministerin Theresa May.

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Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union nimmt Gestalt an: Der Brexit-Antrag werde bis spätestens Ende März gestellt, kündigte Premierministerin Theresa May am Wochenende an. EU-Ratspräsident Donald Tusk begrüßte die Ansage, mit der nach seiner Einschätzung nun Klarheit für das weitere Vorgehen besteht. An den Finanzmärkten wurden Mays Pläne am Montag mitunter als Hinweis darauf gedeutet, dass die Regierung einen sogenannten "harten" Brexit mit einem Verzicht auf begünstigten Zugang zum europäischen Binnenmarkt als Preis für stärkere Einwanderungskontrollen anstrebt. Das Pfund ging auf Talfahrt. Finanzminister Philip Hammond kündigte einen neuen Haushaltsplan an, um Turbulenzen der Wirtschaft abzufedern.

Die für die Einleitung des Brexits notwendige Erklärung nach Artikel 50 der EU-Verträge werde noch vor Ende März übermittelt, sagte May am Sonntag vor jubelnden Anhängern in Birmingham. May versprach dort dem jährlichen Parteitag ihrer Konservativen, dass es keinen ungeordneten Austritt geben werde. Zugleich ließ sie sich für die anstehenden Verhandlungen aber wenig in die Karten blicken. Die EU-Kommission betonte, vor Eintreffen des formellen Antrags werde es keinerlei Verhandlungen geben. Danach sei die EU-Kommission zu konstruktiven und vertrauensvollen Gesprächen bereit. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker werde am Rande des EU-Gipfels im Oktober mit May zusammenkommen.

Die Briten hatten sich am 23. Juni dafür entschieden, der EU den Rücken zu kehren. Schon dieses Votum sorgte für Turbulenzen an den Finanzmärkten und ließ das Pfund einbrechen. Am Montag fiel die britische Währung zum Euro auf ein Dreijahrestief und schrammte zum Dollar nur knapp am niedrigsten Stand seit mehr drei Jahrzehnten vorbei. Die Investmentbank JPMorgan erklärte in einer Mitteilung an ihre Kunden, Mays Pläne deuteten auf einen radikalen Schnitt hin: Die Briten könnten die EU-Zollunion verlassen und ihre Bemühungen um Zugang um EU-Binnenmarkt verringern, um die Einwanderung vom Kontinent auf die Insel begrenzen zu können.

Wo die großen Brexit-Baustellen sind

Investoren fürchten, dass gerade ein solches Vorgehen Großbritannien in eine Rezession stürzen könnte. Die EU will dem Land aber nur dann vollen Zugang zu ihrem Markt gewähren, wenn es die Freizügigkeit für EU-Bürger akzeptiert. Die Einwanderung war allerdings für viele Brexit-Befürworter entscheidend.

May: Höre bei Brexit-Bedingungen auf britische Wirtschaft

May sagte in einem BBC-Interview auf die Frage, ob ihre Regierung eine Begrenzung der Einwanderung über den Zugang zum EU-Binnenmarkt stelle, sie wolle ein "richtiges Abkommen für den Handel mit Waren und Dienstleistungen" erzielen. Dazu höre sie auf die britische Wirtschaft. Der für den Brexit zuständige Minister David Davis erklärte, der Handel mit der EU müsse "so frei wie möglich" sein. "Dabei darf aber der Auftrag des britischen Volks nicht verraten werden, uns die Kontrolle über unsere eigenen Angelegenheiten zurückzuholen."

Innenministerin Amber Rudd betonte, die Regierung arbeite noch an ihren Plänen für eine stärkere Einwanderungskontrolle und werde sich dabei mit der Unternehmenswelt beraten. Es sei wichtig, dass jegliche Begrenzung des Zuzugs ausländischer Arbeitnehmer nicht zum Nachteil der Wirtschaft gereiche, sagte Rudd in einem Interview der "Times". Es gebe Bereiche, in denen ein Rückgang der Einwanderung der Wirtschaft schaden könne. Rudd hatte sich vor dem Referendum gegen einen Brexit ausgesprochen.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Finanzminister Hammond erklärte, während der Brexit-Verhandlungen könne es zu Unsicherheiten in der Geschäftswelt und unter den Verbrauchern kommen. In dieser Zeit müsse die Wirtschaft unterstützt werden. Bei dann zusätzlichen Ausgaben beispielsweise für die Infrastruktur müsse aber zugleich die Haushaltsdisziplin im Blick behalten werden. Bereits zuvor hatte er jedoch das Ziel, Großbritanniens vergleichsweise hohe Budgetlücke bis 2020 auszugleichen, aufgegeben. Ein neuer Zeitplan steht aus. Hammond versprach zudem, sämtliche Ausfälle von EU-Geldern auszugleichen, die vor dem Brexit-Vollzug aus Brüssel zugesagt werden. Bisher galt November als Stichtag.

In Deutschland löste Mays Ankündigung ein zwiespältiges Echo aus. "Nun gibt es endlich eine Linie", sagte CDU-Europapolitiker Elmar Brok. "Es ist aber zu hoffen, dass es Januar oder Februar wird." Hintergrund sind die Wahlen zum Europäischen Parlament im Frühjahr 2019 - bis dahin müsste die Neuordnung der Beziehungen abgeschlossen sein. "Denn es ist nicht vorstellbar, dass britische Abgeordnete erneut ins EP gewählt werden, um dann kurz danach wieder auszuscheiden", sagte auch der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum, zu Reuters.

Krichbaum äußerte sich sonst aber kritischer: "Damit reizt die britische Regierung den Zeitplan bis aufs Äußerste aus", sagte er. "Mays Ankündigung zeigt, dass die britische Regierung weiter völlig planlos ist." Die Bundesregierung wollte Mays Ankündigung auf Anfrage nicht kommentieren.

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