Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union nimmt Gestalt an: Der Brexit-Antrag werde bis spätestens Ende März gestellt, kündigte Premierministerin Theresa May am Wochenende an. EU-Ratspräsident Donald Tusk begrüßte die Ansage, mit der nach seiner Einschätzung nun Klarheit für das weitere Vorgehen besteht. An den Finanzmärkten wurden Mays Pläne am Montag mitunter als Hinweis darauf gedeutet, dass die Regierung einen sogenannten "harten" Brexit mit einem Verzicht auf begünstigten Zugang zum europäischen Binnenmarkt als Preis für stärkere Einwanderungskontrollen anstrebt. Das Pfund ging auf Talfahrt. Finanzminister Philip Hammond kündigte einen neuen Haushaltsplan an, um Turbulenzen der Wirtschaft abzufedern.
Die für die Einleitung des Brexits notwendige Erklärung nach Artikel 50 der EU-Verträge werde noch vor Ende März übermittelt, sagte May am Sonntag vor jubelnden Anhängern in Birmingham. May versprach dort dem jährlichen Parteitag ihrer Konservativen, dass es keinen ungeordneten Austritt geben werde. Zugleich ließ sie sich für die anstehenden Verhandlungen aber wenig in die Karten blicken. Die EU-Kommission betonte, vor Eintreffen des formellen Antrags werde es keinerlei Verhandlungen geben. Danach sei die EU-Kommission zu konstruktiven und vertrauensvollen Gesprächen bereit. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker werde am Rande des EU-Gipfels im Oktober mit May zusammenkommen.
Die Briten hatten sich am 23. Juni dafür entschieden, der EU den Rücken zu kehren. Schon dieses Votum sorgte für Turbulenzen an den Finanzmärkten und ließ das Pfund einbrechen. Am Montag fiel die britische Währung zum Euro auf ein Dreijahrestief und schrammte zum Dollar nur knapp am niedrigsten Stand seit mehr drei Jahrzehnten vorbei. Die Investmentbank JPMorgan erklärte in einer Mitteilung an ihre Kunden, Mays Pläne deuteten auf einen radikalen Schnitt hin: Die Briten könnten die EU-Zollunion verlassen und ihre Bemühungen um Zugang um EU-Binnenmarkt verringern, um die Einwanderung vom Kontinent auf die Insel begrenzen zu können.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Investoren fürchten, dass gerade ein solches Vorgehen Großbritannien in eine Rezession stürzen könnte. Die EU will dem Land aber nur dann vollen Zugang zu ihrem Markt gewähren, wenn es die Freizügigkeit für EU-Bürger akzeptiert. Die Einwanderung war allerdings für viele Brexit-Befürworter entscheidend.
May: Höre bei Brexit-Bedingungen auf britische Wirtschaft
May sagte in einem BBC-Interview auf die Frage, ob ihre Regierung eine Begrenzung der Einwanderung über den Zugang zum EU-Binnenmarkt stelle, sie wolle ein "richtiges Abkommen für den Handel mit Waren und Dienstleistungen" erzielen. Dazu höre sie auf die britische Wirtschaft. Der für den Brexit zuständige Minister David Davis erklärte, der Handel mit der EU müsse "so frei wie möglich" sein. "Dabei darf aber der Auftrag des britischen Volks nicht verraten werden, uns die Kontrolle über unsere eigenen Angelegenheiten zurückzuholen."
Innenministerin Amber Rudd betonte, die Regierung arbeite noch an ihren Plänen für eine stärkere Einwanderungskontrolle und werde sich dabei mit der Unternehmenswelt beraten. Es sei wichtig, dass jegliche Begrenzung des Zuzugs ausländischer Arbeitnehmer nicht zum Nachteil der Wirtschaft gereiche, sagte Rudd in einem Interview der "Times". Es gebe Bereiche, in denen ein Rückgang der Einwanderung der Wirtschaft schaden könne. Rudd hatte sich vor dem Referendum gegen einen Brexit ausgesprochen.
Finanzminister Hammond erklärte, während der Brexit-Verhandlungen könne es zu Unsicherheiten in der Geschäftswelt und unter den Verbrauchern kommen. In dieser Zeit müsse die Wirtschaft unterstützt werden. Bei dann zusätzlichen Ausgaben beispielsweise für die Infrastruktur müsse aber zugleich die Haushaltsdisziplin im Blick behalten werden. Bereits zuvor hatte er jedoch das Ziel, Großbritanniens vergleichsweise hohe Budgetlücke bis 2020 auszugleichen, aufgegeben. Ein neuer Zeitplan steht aus. Hammond versprach zudem, sämtliche Ausfälle von EU-Geldern auszugleichen, die vor dem Brexit-Vollzug aus Brüssel zugesagt werden. Bisher galt November als Stichtag.
In Deutschland löste Mays Ankündigung ein zwiespältiges Echo aus. "Nun gibt es endlich eine Linie", sagte CDU-Europapolitiker Elmar Brok. "Es ist aber zu hoffen, dass es Januar oder Februar wird." Hintergrund sind die Wahlen zum Europäischen Parlament im Frühjahr 2019 - bis dahin müsste die Neuordnung der Beziehungen abgeschlossen sein. "Denn es ist nicht vorstellbar, dass britische Abgeordnete erneut ins EP gewählt werden, um dann kurz danach wieder auszuscheiden", sagte auch der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum, zu Reuters.
Krichbaum äußerte sich sonst aber kritischer: "Damit reizt die britische Regierung den Zeitplan bis aufs Äußerste aus", sagte er. "Mays Ankündigung zeigt, dass die britische Regierung weiter völlig planlos ist." Die Bundesregierung wollte Mays Ankündigung auf Anfrage nicht kommentieren.