Ist der Discountversuch der Briten nun eine Verzweiflungstat oder ein geschickter Poker, auch in den bevorstehenden Verhandlungen mit der EU? In Berlin und Brüssel neigt man zur ersten Interpretation. „Steuersenkungen in Großbritannien wären eine Panikreaktion. Der Wechselkurs des Pfund und der konkrete Zugang zum Binnenmarkt sind unterm Strich viel relevanter, wenn es um Standortverlagerungen geht“, sagt SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel. Noch schärfer, beinahe beleidigt, ist der Ton in Brüssel. „Die Briten merken doch, dass sie absaufen“, kommentiert ein hoher EU-Beamter. Allmählich spüre man in London wohl, wie lange die Periode der Unsicherheit dauern könne, wie teuer der Brexit die Briten zu stehen kommen könne.
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
Tatsächlich gibt es ökonomisch durchaus handfeste Gründe für den Steuervorstoß von Osborne. Quer über den Kontinent wird seit Jahren schon ein Mangel an Investitionen beklagt. Die EU-Kommission hat mehrfach große Investitionsoffensiven angekündigt – und kleine angestoßen. Dabei geht es, so Osbornes Theorie, viel einfacher: Ist der Steuersatz niedrig, haben die Unternehmen am Jahresende mehr in der Kasse. Markt und der Wettbewerb schleusen das Geld in Maschinen, Anlagen, Arbeitsplätze. Die Wirtschaft boomt (siehe Kommentar Seite 32). Allerdings ist das Vereinigte Königreich bereits heute eine der größten Steueroasen der Welt. Viele Großunternehmen versteuern ihre Gewinne zu niedrigsten Sätzen in der Karibik oder auf dem britischen Inselchen Jersey im Ärmelkanal. Unabhängig davon befürchten Ökonomen neue Schulden und weitere Kürzungen, die die Inlandsnachfrage hemmen. Und schließlich ändert eine niedrige Körperschaftsteuer nichts am neuen Wettbewerbsnachteil: Nach einem EU-Austritt hat Großbritannien ausländischen Konzernen und Banken ausgedient als Brückenkopf für den Handel in die Union.
Großbritannien als Steueroase
Richard Murphy, Steuerexperte an der Londoner City University, hält eine Senkung noch aus einem anderen Grund für kontraproduktiv: „Sätze von weniger als 15 Prozent könnten dazu führen, dass Großbritannien von der restlichen EU als Steueroase eingestuft und auf eine schwarze Liste gesetzt wird.“ Der ökonomische Ertrag dürfte sich in Grenzen halten, wenn Unternehmen fürchten müssen, bei der Umleitung von Gewinnen oder bei einer Verlagerung des Firmensitzes nach Großbritannien von ihren heimischen Steuerbehörden besonders streng unter die Lupe genommen zu werden.
Unklar bleibt zudem, wer für das Steuergeschenk an Großkonzerne zahlen müsste. Voriges Jahr hat die Körperschaftsteuer dem britischen Staat rund 43 Milliarden Pfund eingebracht, jeder Prozentpunkt weniger dürfte rund zwei Milliarden Pfund kosten. Gelingt es der Regierung nicht, dadurch weit mehr Unternehmen anzulocken, müssen die Bürger diese Differenz durch höhere Steuern oder durch den Verzicht auf staatliche Leistungen ausgleichen – vermutlich wenig populär in einer Bevölkerung, die seit Jahren unter einem strengen Sparkurs der Regierung ächzt und ihrem Unmut über schon existierende Steuertricks für Konzerne häufig Luft macht.
Schließlich die Frage aller Fragen: Lässt sich mit niedrigen Steuern wirklich die drohende Firmenabwanderung stoppen? Blickt man in den Terminkalender eines großen Vermögensverwalters, wird man die Frage wohl verneinen müssen. Darin sind, Steuersenkung hin oder her, mehrere Telefontermine mit Firmen eingetragen, die sich aus Großbritannien zurückziehen wollen.