Brexit Was sich im Alltag ändert

Noch gilt in Großbritannien europäisches Recht. Aber sobald das Land aus der EU austritt, wird sich auch im Kleinen vieles wandeln – nicht nur für die Briten.

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Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Am Tag nach dem Brexit-Referendum waren viele Reisende verunsichert. So verunsichert, dass sich der Betreiber des Eurostars, dem Zug,der Großbritannien mit dem Kontinent verbindet, und auch der Flughafen Heathrow am Freitag veranlasst sahen, Passagiere zu beruhigen. Züge und Flugzeuge verkehrten normal und die Einreisebedingungen blieben unverändert, betonten beide Unternehmen.  

Die Neuerungen im Alltag, die der Brexit jenseits aller politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen bringen wird, sie stehen erst bevor. So lange Großbritannien Mitglied der EU ist, gilt dort noch europäisches Recht, bestätigten die Präsidenten von Europäischem Parlament, Rat und der EU-Kommission am Freitag.

Wo die großen Brexit-Baustellen sind

Der EU-Vertrag sieht eine Frist von zwei Jahren für die Austrittsverhandlungen vor, so dass die Änderungen frühestens 2018 bevorstehen. Dann allerdings werden sie einschneidend sein. 6.000 europäische Richtlinien, 140.000 europäische Verordnungen und 18.000 Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs verlieren in Großbritannien ihre Gültigkeit. Die Überregulierung, die viele EU-Kritiker Brüssel vorgeworfen haben, streift Großbritannien damit ab. Verbraucher werden dann aber merken, dass die Souveränität, von der die Brexit-Befürworter geträumt haben, durchaus ihren Preis hat. Und dass nicht jede Regel der EU überflüssig war.

Beispiel Luftverkehr: Mit dem Austritt aus der EU verlieren britische Fluglinien ihre Landeerlaubnis in der EU. Sie hätten auch keinen Zugang mehr zu Flughäfen in Drittländern wie den USA, was bisher das Luftfahrtsabkommen zwischen der EU und den USA sichert.

"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa

Experten gehen davon aus, dass Großbritannien schnell versuchen wird, bilateral mit anderen Ländern Luftfahrtsabkommen abzuschließen, um Zugang zu kontinentaleuropäischen Flughäfen zu erhalten. Doch niemand kann prognostizieren, wie schnell diese tatsächlich ausverhandelt wären. Fluglinien wie Easyjet und Ryanair hatten deshalb lautstark vor einem Brexit gewarnt. Britische Reisende müssen sich unter Umständen darauf einstellen, dass künftig weniger Ferienflieger in beliebte Ferienziele wie die kanarischen Inseln abheben werden. Gleichzeitig könnte für Urlauber vom Kontinent aber auch das Angebot für Flüge nach London ausgedünnt werden. Auch Umsteigeverbindungen in die Welt via London könnten unattraktiver werden, weil die Anbindung an den Kontinent nicht mehr so gut klappt.

Beispiel Passagierrechte

Die EU schützt Touristen vor Verspätungen und Annullierungen – vor allem bei Flugreisen, aber auch bei internationalen Bahnreisen. Bei Reisen von und nach Europa gelten sie für alle Passagiere. Briten, die künftig in den Rest der Welt fliegen, wären aber nicht mehr geschützt.

Beispiel Mobiltelefone: Roaming-Gebühren in der EU sind streng reguliert – zum Vorteil der Verbraucher. Wer sein Handy im EU-Ausland benützt, muss maximal fünf Cent pro Minute zahlen. Das Herunterladen von Daten kostet maximal 20 Cent pro Megabyte. Ab Juni 2017 fallen die Roaming-Gebühren komplett weg.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Der Blick auf die Landkarte im Handy könnte für deutsche Urlauber in Großbritannien künftig teuer werden, genauso wie für britische Urlauber in Spanien. Es sei denn, die britischen Mobilfunkunternehmen verzichten freiwillig auf Roaming-Einnahmen. Die Entscheidung liegt ganz bei ihnen. .

Beispiel Lebensmittelvorschriften: Die britische Tageszeitung „Guardian“ hat ihre Leser vor dem Brexit-Referendum augenzwinkernd aufgefordert, noch schnell französischen Käse einzufrieren, bevor es zu spät ist. Bisher gilt für Lebensmittel in der EU das Grundprinzip, dass sie in ganz Europa verkauft werden dürfen, wenn sie in einem Land als verzehrbar eingestuft worden sind. Sollten die Briten aus dem Binnenmarkt ausscheiden, wäre dieses Prinzip außer Kraft gesetzt. Noch steht nicht fest, dass die Briten aus dem Binnenmarkt ausscheiden, wenn sie der EU den Rücken kehren.

Norwegen gehört dem Binnenmarkt an, ohne Mitglied der EU zu sein. Aber ob Großbritannien sich mit den damit verbundenen Pflichten anfreunden kann, muss erst noch debattiert werden.  

Beispiel Zölle: Einmal aus der EU ausgetreten, könnte Großbritannien Zölle auf europäische Ware erheben. Die Europäer könnten andersherum genauso verfahren. In der Summe würden beide verlieren. Allerdings gibt es durchaus Unternehmen, die von Zöllen profitieren würden. Der Chef von Eurotunnel, der Betreiber des Kanaltunnels, schwärmte schon Ende vergangenen Jahres von der „unglaublichen“ Chance, die sich für sein Unternehmen dank Zöllen ergeben würde. Jacques Gounon geht davon aus, dass Briten künftig wieder Tagestrips ins französische Calais unternehmen  würden, um dort billigeren Alkohol zu erstehen. Bis 1999 hat das Unternehmen bis zu zehn Prozent seines Umsatzes mit sogenannten Booze Cruises gemacht, bei denen Briten ihre Alkohlvorräte aufstockten.

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