Am Tag nach dem Brexit-Referendum waren viele Reisende verunsichert. So verunsichert, dass sich der Betreiber des Eurostars, dem Zug,der Großbritannien mit dem Kontinent verbindet, und auch der Flughafen Heathrow am Freitag veranlasst sahen, Passagiere zu beruhigen. Züge und Flugzeuge verkehrten normal und die Einreisebedingungen blieben unverändert, betonten beide Unternehmen.
Die Neuerungen im Alltag, die der Brexit jenseits aller politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen bringen wird, sie stehen erst bevor. So lange Großbritannien Mitglied der EU ist, gilt dort noch europäisches Recht, bestätigten die Präsidenten von Europäischem Parlament, Rat und der EU-Kommission am Freitag.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Der EU-Vertrag sieht eine Frist von zwei Jahren für die Austrittsverhandlungen vor, so dass die Änderungen frühestens 2018 bevorstehen. Dann allerdings werden sie einschneidend sein. 6.000 europäische Richtlinien, 140.000 europäische Verordnungen und 18.000 Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs verlieren in Großbritannien ihre Gültigkeit. Die Überregulierung, die viele EU-Kritiker Brüssel vorgeworfen haben, streift Großbritannien damit ab. Verbraucher werden dann aber merken, dass die Souveränität, von der die Brexit-Befürworter geträumt haben, durchaus ihren Preis hat. Und dass nicht jede Regel der EU überflüssig war.
Beispiel Luftverkehr: Mit dem Austritt aus der EU verlieren britische Fluglinien ihre Landeerlaubnis in der EU. Sie hätten auch keinen Zugang mehr zu Flughäfen in Drittländern wie den USA, was bisher das Luftfahrtsabkommen zwischen der EU und den USA sichert.
Experten gehen davon aus, dass Großbritannien schnell versuchen wird, bilateral mit anderen Ländern Luftfahrtsabkommen abzuschließen, um Zugang zu kontinentaleuropäischen Flughäfen zu erhalten. Doch niemand kann prognostizieren, wie schnell diese tatsächlich ausverhandelt wären. Fluglinien wie Easyjet und Ryanair hatten deshalb lautstark vor einem Brexit gewarnt. Britische Reisende müssen sich unter Umständen darauf einstellen, dass künftig weniger Ferienflieger in beliebte Ferienziele wie die kanarischen Inseln abheben werden. Gleichzeitig könnte für Urlauber vom Kontinent aber auch das Angebot für Flüge nach London ausgedünnt werden. Auch Umsteigeverbindungen in die Welt via London könnten unattraktiver werden, weil die Anbindung an den Kontinent nicht mehr so gut klappt.
Beispiel Passagierrechte
Die EU schützt Touristen vor Verspätungen und Annullierungen – vor allem bei Flugreisen, aber auch bei internationalen Bahnreisen. Bei Reisen von und nach Europa gelten sie für alle Passagiere. Briten, die künftig in den Rest der Welt fliegen, wären aber nicht mehr geschützt.
Beispiel Mobiltelefone: Roaming-Gebühren in der EU sind streng reguliert – zum Vorteil der Verbraucher. Wer sein Handy im EU-Ausland benützt, muss maximal fünf Cent pro Minute zahlen. Das Herunterladen von Daten kostet maximal 20 Cent pro Megabyte. Ab Juni 2017 fallen die Roaming-Gebühren komplett weg.
Der Blick auf die Landkarte im Handy könnte für deutsche Urlauber in Großbritannien künftig teuer werden, genauso wie für britische Urlauber in Spanien. Es sei denn, die britischen Mobilfunkunternehmen verzichten freiwillig auf Roaming-Einnahmen. Die Entscheidung liegt ganz bei ihnen. .
Beispiel Lebensmittelvorschriften: Die britische Tageszeitung „Guardian“ hat ihre Leser vor dem Brexit-Referendum augenzwinkernd aufgefordert, noch schnell französischen Käse einzufrieren, bevor es zu spät ist. Bisher gilt für Lebensmittel in der EU das Grundprinzip, dass sie in ganz Europa verkauft werden dürfen, wenn sie in einem Land als verzehrbar eingestuft worden sind. Sollten die Briten aus dem Binnenmarkt ausscheiden, wäre dieses Prinzip außer Kraft gesetzt. Noch steht nicht fest, dass die Briten aus dem Binnenmarkt ausscheiden, wenn sie der EU den Rücken kehren.
Norwegen gehört dem Binnenmarkt an, ohne Mitglied der EU zu sein. Aber ob Großbritannien sich mit den damit verbundenen Pflichten anfreunden kann, muss erst noch debattiert werden.
Beispiel Zölle: Einmal aus der EU ausgetreten, könnte Großbritannien Zölle auf europäische Ware erheben. Die Europäer könnten andersherum genauso verfahren. In der Summe würden beide verlieren. Allerdings gibt es durchaus Unternehmen, die von Zöllen profitieren würden. Der Chef von Eurotunnel, der Betreiber des Kanaltunnels, schwärmte schon Ende vergangenen Jahres von der „unglaublichen“ Chance, die sich für sein Unternehmen dank Zöllen ergeben würde. Jacques Gounon geht davon aus, dass Briten künftig wieder Tagestrips ins französische Calais unternehmen würden, um dort billigeren Alkohol zu erstehen. Bis 1999 hat das Unternehmen bis zu zehn Prozent seines Umsatzes mit sogenannten Booze Cruises gemacht, bei denen Briten ihre Alkohlvorräte aufstockten.