Brexit Zugeständnisse für David Cameron wecken Begehrlichkeiten

In einer Woche ist es soweit: Beim EU-Gipfel versuchen Großbritannien und die EU, den Brexit zu verhindern. David Cameron hofft auf Zugeständnisse wie weniger Leistungen für EU-Ausländer. Davon möchte auch Deutschland profitieren.

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Mehr nationale Alleingänge scheinen angemessen, um die Briten in der EU zu halten. Quelle: REUTERS

Im kleinen Kreis gibt David Cameron gerne zu verstehen, dass er den SPD-Europapolitiker Martin Schulz, gelernten Buchhändler aus Würselen, für eine Nervensäge hält. Für einen, der als Präsident des Europäischen Parlaments zu lange Reden hält und andere bei den EU-Gipfeln von der Arbeit abhält. Auch Schulz hält wenig vom schnöseligen Premier, ausgebildet im selben Eliteinternat wie die königliche Familie.

Dennoch treffen sich Buchhändler und Elitezögling derzeit im Wochenrhythmus und sprechen sehr ernsthaft über eine Frage, die beide ehrlich umtreibt: Kann die EU ihre Einheit bewahren, oder steht sie – dank des britischen Flirts mit einem „Brexit“ – am Anfang eines Auflösungsprozesses?

Noch sind es ein paar Tage bis zum EU-Sondergipfel über einen möglichen Austritt Großbritanniens. Doch es zeichnet sich, unter anderem dank der intensiven Diplomatie zwischen Cameron und Schulz, ein Kompromiss ab. Um Großbritannien zu besänftigen, will Brüssel den Briten eine „Notbremse“ zugestehen. Die soll es ermöglichen, bestimmte Sozialleistungen für EU-Ausländer einzuschränken. Dazu soll die Verordnung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit von 2011 ergänzt werden. Verzeichnet ein Mitgliedsland über eine längere Zeit einen außergewöhnlichen Zustrom von Arbeitskräften, könnte es demnach Lohnzuschüsse für neu Zureisende vier Jahre lang einschränken. Diese Notbremse soll nur befristet anwendbar sein, noch sind alle Vorschläge dazu mit eckigen Klammern versehen, wie immer, wenn ein Kompromiss in Europa nicht steht. Auch das Europaparlament müsste in jedem Fall zustimmen, ebenso wie eine Mehrheit der Mitgliedstaaten.

Londons Sonderwege in Europa
1960Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt. Im Bild: Der damalige EFTA-Generalsektretär Kjartan Joahnnsson (rechts) mit seinem Vorgänger Georg Reisch (links) zu den Feierlichkeiten zum 40-jährigen BEstehen der EFTA in Genf. Quelle: REUTERS
Charles de Gaulle Quelle: AP
Premier Harold Wilson Quelle: REUTERS
Margaret Thatcher Quelle: AP
1990Die EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit. Quelle: AP
John Major, ehemaliger Premier Großbritanniens Quelle: REUTERS
Premier Tony Blair Quelle: AP

Premier Cameron versucht das Angebot aber schon jetzt Europaskeptikern daheim als Erfolg seiner harten Verhandlungstaktik zu verkaufen. Auch auf dem Kontinent regt sich kaum Widerstand. Mehr nationale Alleingänge scheinen den anderen Mitgliedstaaten offenbar ein angemessener Preis zu sein, die Briten in der EU zu halten.

Hat sich Europa zwischen Griechenland- und Flüchtlingskrise so sehr auseinandergelebt, dass ein Freibrief für Nationalismus – und das ist die Notbremse letztlich – nicht mehr schockieren kann? Oder aber haben andere Mitgliedstaaten schlicht und einfach erkannt, dass die Briten kritische Punkte ansprechen, die wegen Realitätsferne der Eurokraten zu akuter und teurer Überforderung überall zu führen drohen – selbst im europäischen Musterland Deutschland?

Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa

Wenn Richter Wohltaten erfinden

Dafür spricht Karin Welges Reaktion, wenn man sie nach den Auswirkungen des geltenden Sozialrechts auf die Wanderungen in Europa anspricht. Welge, Kämmerin und Sozialdezernentin der Stadt Gelsenkirchen, ist weit weg von den Verhandlungen zwischen Schulz und Cameron. Dafür ist sie nah dran an jenem Urteil, das selbst Kanzlerin Angela Merkel zu einem von Camerons besten Verbündeten werden lassen könnte.

Es geht um eine Entscheidung des Bundessozialgerichts Anfang Dezember, ob eine rumänische Familie, seit acht Jahren in Gelsenkirchen ansässig, Anrecht auf Hartz-IV-Leistungen habe. Ein paar Wochen zuvor hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits erklärt, dass Deutschland in diesem Fall die Zahlung verweigern dürfe.

Nebensächlich für den Steuerzahler, irrelevant für Europa

Statt mithilfe dieses Urteils aber den Wunsch der Rumänen abzulehnen, erfanden die deutschen Sozialrichter eine neue Rechtsnorm. Ihr Tenor: Zwar hätten die Kläger keinen Anspruch auf Hartz IV, da sie aber länger als sechs Monate in Deutschland lebten, müsse sich der deutsche Staat trotzdem um sie kümmern. Ihnen stehe Hilfe zum Lebensunterhalt, also Sozialhilfe, zu.

Starker Zuzug: In Deutschland lebende EU-Ausländer. (zum Vergrößern bitte anklicken)

„Seitdem häufen sich die Klagen“, berichtet Welge, „mehr als 70 ähnliche Verfahren“ gebe es allein in Gelsenkirchen. Sollte die Politik nicht tätig werden, plant sie mit zweistelligen Millionenkosten, allein in diesem Jahr. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund rechnet mit 130.000 neuen Antragstellern und Zusatzkosten von rund 600 Millionen Euro pro Jahr bundesweit.

Es geht aber nicht nur ums Geld und nicht nur um das Geplänkel zwischen verschiedenen Verwaltungsinstanzen. Bis zum Urteil des EuGH vom vergangenen Jahr hatten Zuwanderer aus anderen EU-Staaten Anrecht auf Hartz-IV-Leistungen sowie Wohngeldzuschüsse. Hartz IV zahlt der Bund, das Wohngeld zu zwei Dritteln die Kommunen. Wenn aus den Hartz-IV-Empfängern jetzt Sozialhilfefälle werden, dann wechseln sie nur die Kostenstelle: Sozialhilfe zahlt zu 100 Prozent die Kommune. Das mag für Gelsenkirchen ärgerlich sein, für den deutschen Steuerzahler ist es nebensächlich, für Europa irrelevant.

Die Dimension der Entscheidung ergibt sich aus dem Denkmuster des Urteils: Es darf nicht sein, dass der deutsche Staat Bürger Europas, die Hilfe begehren, einfach abweist. Wo die geltenden Regeln diese Konsequenz vorsehen, müssen die Regeln falsch sein, so offenbar die Denke der Richter.

Aber ist so ein umfassendes Versorgungsverständnis wirklich noch europäische Integration? Oder ist hier ein guter Gedanke zum Dogma geworden und verstellt so den Blick für das Machbare?

Unter Zugzwang: Arbeitsministerin Andrea Nahles Quelle: REUTERS

„Die Konsequenzen dieser Entscheidung sind abstrus“, erläutert Kämmerin Welge. „Um zu verhindern, dass Menschen zu uns einreisen, nur um bessere Sozialleistungen zu kassieren, müssen wir Kommunen in Zukunft prüfen, ob für EU-Ausländer in der Stadt noch das Recht auf Freizügigkeit gilt.“ Das hieße: Überwachung der Zuwanderer, um zu unterscheiden, wer wirklich Arbeit sucht und wer nur sechs Monate überbrücken will, um Sozialleistungen zu erhalten. „Es gibt in Europa sehr unterschiedlich auskömmliche Sozialsysteme – und damit immer Anreize, sie zu wechseln“, sagt Rene Geißler, auf Sozialrecht spezialisierter Wissenschaftler von der Bertelsmann-Stiftung. „Das zu fördern hat aber nichts mit der Idee von Freizügigkeit zu tun.“

Vielleicht hat sich auch Andrea Nahles (SPD) solche Gedanken gemacht, als die neue Linie der Richter im Dezember an sie herangetragen wurde. Offiziell sagt die Bundesarbeitsministerin, man müsse die Begründung des Gerichts in Ruhe analysieren, die seit gut zwei Wochen vorliegt. Zum Jahreswechsel kündigte sie an, in jedem Fall werde man „die Kommunen davor bewahren, unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen zu müssen“. Irgendwann im Januar aber hat man in der Bundesregierung entdeckt, dass in diesem Urteil mehr steckt als neuer Streit mit Bürgermeistern, die wegen der Flüchtlingskosten ohnehin aufgebracht sind.

Leistung nur nach Gegenleistung

Zwar wird im Arbeitsministerium bis heute betont, dass es sich bei der Sozialhilfe zuallererst um eine nationale Frage handle, ausgelöst durch ein deutsches Gericht, die deshalb hier zu lösen sei. Doch aus Nahles Umfeld heißt es auch, die Abstimmung mit der Kanzlerin bei diesem Thema sei inzwischen eng.

Was die Briten an der EU stört
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Zuletzt verknüpfte Nahles bei einem Besuch ihrer französischen Amtskollegin die deutschen Absichten direkt mit den britischen Wünschen, EU-Bürger mehrere Jahre von Sozialleistungen auszuschließen. „Wir sind bereit, Lösungen für die Frage der Briten zu finden, die die Frage der Sozialleistungen für ausländische EU-Bürger aufgreifen. Da gibt es auch aus unserer Sicht Regelungslücken, wenn es darum geht, bestehende Fehlanreize zu vermeiden“, so Nahles.

Für die Verhandlungen mit Großbritannien könnte dieser Sinneswandel entscheidend sein. Denn um die Briten vom Verbleib in der Union zu überzeugen, werden ein paar Sonderregeln nach dem Prinzip der Briten-Rabatte in den Achtzigerjahren nicht genügen. Die Wähler müssen zu der Überzeugung gelangen, dass die Union wirklich dabei ist, ihren Charakter zu verändern, nicht nur in Großbritannien. Zwar ist die Ablehnung Brüssels nirgends so ausgeprägt wie auf der Insel, doch auch in anderen Ländern Europas sinkt das Ansehen der EU rapide.

Darum will Angela Merkel die Briten in der EU halten

Nun liegt mit der Notbremse erstmals ein Instrument zumindest zum Teilausstieg auf dem Tisch, das zwar stark auf Großbritannien zugeschnitten ist, das aber jedes Mitgliedsland nutzen könnte. Und mitten in der Flüchtlingskrise ist die Neigung dazu selbst in Deutschland ausgeprägt.

Wenn Ministerin Nahles etwa darauf hinweist, Kommunen könnten nicht unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen, vergisst sie nie den Zusatz, das sei ja auch nie die Idee der EU-Freizügigkeit gewesen. Das einflussreiche CDU-Präsidiumsmitglied Julia Klöckner wirbt im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz um Ähnliches. Und CSU-Mann Manfred Weber, ranghöchster Konservativer im Europaparlament, sieht Ausnahmemöglichkeiten etwa beim Kindergeld für EU-Ausländer gar als eine Frage der Gerechtigkeit an.

Leistung nur nach Gegenleistung

In Deutschland könnte das Prinzip in Zukunft heißen: Leistung nur nach Gegenleistung. Sozialhilfe erhielten nur noch EU-Bürger, die in Deutschland auch längere Zeit gearbeitet hätten. Im Arbeitsministerium hegt man Sympathien für eine solche Regelung, doch der Teufel stecke im Detail, heißt es. Viel hänge etwa an der Frage, wie man Beschäftigung genau definiere. Der Sozialstaat solle zwar nicht jedem sofort offen stehen, aber der Zugang dazu dürfe eben auch nicht kategorisch ausgeschlossen werden, sonst drohe eine unlautere Diskriminierung.

Knifflig, ja. Auch, weil es nicht nur um Politisches geht. Passen die Verantwortlichen nicht auf, könnte der Europäische Gerichtshof die schöne neue nationale Flexibilität rasch wieder kippen.

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