Im kleinen Kreis gibt David Cameron gerne zu verstehen, dass er den SPD-Europapolitiker Martin Schulz, gelernten Buchhändler aus Würselen, für eine Nervensäge hält. Für einen, der als Präsident des Europäischen Parlaments zu lange Reden hält und andere bei den EU-Gipfeln von der Arbeit abhält. Auch Schulz hält wenig vom schnöseligen Premier, ausgebildet im selben Eliteinternat wie die königliche Familie.
Dennoch treffen sich Buchhändler und Elitezögling derzeit im Wochenrhythmus und sprechen sehr ernsthaft über eine Frage, die beide ehrlich umtreibt: Kann die EU ihre Einheit bewahren, oder steht sie – dank des britischen Flirts mit einem „Brexit“ – am Anfang eines Auflösungsprozesses?
Noch sind es ein paar Tage bis zum EU-Sondergipfel über einen möglichen Austritt Großbritanniens. Doch es zeichnet sich, unter anderem dank der intensiven Diplomatie zwischen Cameron und Schulz, ein Kompromiss ab. Um Großbritannien zu besänftigen, will Brüssel den Briten eine „Notbremse“ zugestehen. Die soll es ermöglichen, bestimmte Sozialleistungen für EU-Ausländer einzuschränken. Dazu soll die Verordnung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit von 2011 ergänzt werden. Verzeichnet ein Mitgliedsland über eine längere Zeit einen außergewöhnlichen Zustrom von Arbeitskräften, könnte es demnach Lohnzuschüsse für neu Zureisende vier Jahre lang einschränken. Diese Notbremse soll nur befristet anwendbar sein, noch sind alle Vorschläge dazu mit eckigen Klammern versehen, wie immer, wenn ein Kompromiss in Europa nicht steht. Auch das Europaparlament müsste in jedem Fall zustimmen, ebenso wie eine Mehrheit der Mitgliedstaaten.
Premier Cameron versucht das Angebot aber schon jetzt Europaskeptikern daheim als Erfolg seiner harten Verhandlungstaktik zu verkaufen. Auch auf dem Kontinent regt sich kaum Widerstand. Mehr nationale Alleingänge scheinen den anderen Mitgliedstaaten offenbar ein angemessener Preis zu sein, die Briten in der EU zu halten.
Hat sich Europa zwischen Griechenland- und Flüchtlingskrise so sehr auseinandergelebt, dass ein Freibrief für Nationalismus – und das ist die Notbremse letztlich – nicht mehr schockieren kann? Oder aber haben andere Mitgliedstaaten schlicht und einfach erkannt, dass die Briten kritische Punkte ansprechen, die wegen Realitätsferne der Eurokraten zu akuter und teurer Überforderung überall zu führen drohen – selbst im europäischen Musterland Deutschland?
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Wenn Richter Wohltaten erfinden
Dafür spricht Karin Welges Reaktion, wenn man sie nach den Auswirkungen des geltenden Sozialrechts auf die Wanderungen in Europa anspricht. Welge, Kämmerin und Sozialdezernentin der Stadt Gelsenkirchen, ist weit weg von den Verhandlungen zwischen Schulz und Cameron. Dafür ist sie nah dran an jenem Urteil, das selbst Kanzlerin Angela Merkel zu einem von Camerons besten Verbündeten werden lassen könnte.
Es geht um eine Entscheidung des Bundessozialgerichts Anfang Dezember, ob eine rumänische Familie, seit acht Jahren in Gelsenkirchen ansässig, Anrecht auf Hartz-IV-Leistungen habe. Ein paar Wochen zuvor hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits erklärt, dass Deutschland in diesem Fall die Zahlung verweigern dürfe.
Nebensächlich für den Steuerzahler, irrelevant für Europa
Statt mithilfe dieses Urteils aber den Wunsch der Rumänen abzulehnen, erfanden die deutschen Sozialrichter eine neue Rechtsnorm. Ihr Tenor: Zwar hätten die Kläger keinen Anspruch auf Hartz IV, da sie aber länger als sechs Monate in Deutschland lebten, müsse sich der deutsche Staat trotzdem um sie kümmern. Ihnen stehe Hilfe zum Lebensunterhalt, also Sozialhilfe, zu.
„Seitdem häufen sich die Klagen“, berichtet Welge, „mehr als 70 ähnliche Verfahren“ gebe es allein in Gelsenkirchen. Sollte die Politik nicht tätig werden, plant sie mit zweistelligen Millionenkosten, allein in diesem Jahr. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund rechnet mit 130.000 neuen Antragstellern und Zusatzkosten von rund 600 Millionen Euro pro Jahr bundesweit.
Es geht aber nicht nur ums Geld und nicht nur um das Geplänkel zwischen verschiedenen Verwaltungsinstanzen. Bis zum Urteil des EuGH vom vergangenen Jahr hatten Zuwanderer aus anderen EU-Staaten Anrecht auf Hartz-IV-Leistungen sowie Wohngeldzuschüsse. Hartz IV zahlt der Bund, das Wohngeld zu zwei Dritteln die Kommunen. Wenn aus den Hartz-IV-Empfängern jetzt Sozialhilfefälle werden, dann wechseln sie nur die Kostenstelle: Sozialhilfe zahlt zu 100 Prozent die Kommune. Das mag für Gelsenkirchen ärgerlich sein, für den deutschen Steuerzahler ist es nebensächlich, für Europa irrelevant.
Die Dimension der Entscheidung ergibt sich aus dem Denkmuster des Urteils: Es darf nicht sein, dass der deutsche Staat Bürger Europas, die Hilfe begehren, einfach abweist. Wo die geltenden Regeln diese Konsequenz vorsehen, müssen die Regeln falsch sein, so offenbar die Denke der Richter.
Aber ist so ein umfassendes Versorgungsverständnis wirklich noch europäische Integration? Oder ist hier ein guter Gedanke zum Dogma geworden und verstellt so den Blick für das Machbare?
„Die Konsequenzen dieser Entscheidung sind abstrus“, erläutert Kämmerin Welge. „Um zu verhindern, dass Menschen zu uns einreisen, nur um bessere Sozialleistungen zu kassieren, müssen wir Kommunen in Zukunft prüfen, ob für EU-Ausländer in der Stadt noch das Recht auf Freizügigkeit gilt.“ Das hieße: Überwachung der Zuwanderer, um zu unterscheiden, wer wirklich Arbeit sucht und wer nur sechs Monate überbrücken will, um Sozialleistungen zu erhalten. „Es gibt in Europa sehr unterschiedlich auskömmliche Sozialsysteme – und damit immer Anreize, sie zu wechseln“, sagt Rene Geißler, auf Sozialrecht spezialisierter Wissenschaftler von der Bertelsmann-Stiftung. „Das zu fördern hat aber nichts mit der Idee von Freizügigkeit zu tun.“
Vielleicht hat sich auch Andrea Nahles (SPD) solche Gedanken gemacht, als die neue Linie der Richter im Dezember an sie herangetragen wurde. Offiziell sagt die Bundesarbeitsministerin, man müsse die Begründung des Gerichts in Ruhe analysieren, die seit gut zwei Wochen vorliegt. Zum Jahreswechsel kündigte sie an, in jedem Fall werde man „die Kommunen davor bewahren, unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen zu müssen“. Irgendwann im Januar aber hat man in der Bundesregierung entdeckt, dass in diesem Urteil mehr steckt als neuer Streit mit Bürgermeistern, die wegen der Flüchtlingskosten ohnehin aufgebracht sind.
Leistung nur nach Gegenleistung
Zwar wird im Arbeitsministerium bis heute betont, dass es sich bei der Sozialhilfe zuallererst um eine nationale Frage handle, ausgelöst durch ein deutsches Gericht, die deshalb hier zu lösen sei. Doch aus Nahles Umfeld heißt es auch, die Abstimmung mit der Kanzlerin bei diesem Thema sei inzwischen eng.
Zuletzt verknüpfte Nahles bei einem Besuch ihrer französischen Amtskollegin die deutschen Absichten direkt mit den britischen Wünschen, EU-Bürger mehrere Jahre von Sozialleistungen auszuschließen. „Wir sind bereit, Lösungen für die Frage der Briten zu finden, die die Frage der Sozialleistungen für ausländische EU-Bürger aufgreifen. Da gibt es auch aus unserer Sicht Regelungslücken, wenn es darum geht, bestehende Fehlanreize zu vermeiden“, so Nahles.
Für die Verhandlungen mit Großbritannien könnte dieser Sinneswandel entscheidend sein. Denn um die Briten vom Verbleib in der Union zu überzeugen, werden ein paar Sonderregeln nach dem Prinzip der Briten-Rabatte in den Achtzigerjahren nicht genügen. Die Wähler müssen zu der Überzeugung gelangen, dass die Union wirklich dabei ist, ihren Charakter zu verändern, nicht nur in Großbritannien. Zwar ist die Ablehnung Brüssels nirgends so ausgeprägt wie auf der Insel, doch auch in anderen Ländern Europas sinkt das Ansehen der EU rapide.
Darum will Angela Merkel die Briten in der EU halten
Angela Merkel und der britische Premier David Cameron wollen gemeinsam verhindern, dass Brüssel noch mehr Macht bekommt. Der Kampf gegen die EU-Bürokratie eint Berlin und London.
Soll es je eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, geht das nur mit den Briten. Schließlich sind sie ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und im Besitz von Atomwaffen.
In der Wirtschaftspolitik hat Merkel mit den Briten mehr gemeinsame liberale Prinzipien als mit dem französischen Sozialisten François Hollande. Auch bei TTIP und Freihandel verbindet Merkel viel mit den britischen Konservativen.
Sollten die Briten austreten, würden in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden ebenfalls die Anti-EU-Strömungen stärker. Und auch in Deutschland bekämen die EU-Gegner Auftrieb.
Ohne die Briten würde der europäische Binnenmarkt kleiner und schwächer – ein Nachteil für die deutschen Unternehmen, die auf der Insel über 120 Milliarden Euro investiert haben, mehr als doppelt so viel wie in Frankreich und China.
Nun liegt mit der Notbremse erstmals ein Instrument zumindest zum Teilausstieg auf dem Tisch, das zwar stark auf Großbritannien zugeschnitten ist, das aber jedes Mitgliedsland nutzen könnte. Und mitten in der Flüchtlingskrise ist die Neigung dazu selbst in Deutschland ausgeprägt.
Wenn Ministerin Nahles etwa darauf hinweist, Kommunen könnten nicht unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen, vergisst sie nie den Zusatz, das sei ja auch nie die Idee der EU-Freizügigkeit gewesen. Das einflussreiche CDU-Präsidiumsmitglied Julia Klöckner wirbt im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz um Ähnliches. Und CSU-Mann Manfred Weber, ranghöchster Konservativer im Europaparlament, sieht Ausnahmemöglichkeiten etwa beim Kindergeld für EU-Ausländer gar als eine Frage der Gerechtigkeit an.
Leistung nur nach Gegenleistung
In Deutschland könnte das Prinzip in Zukunft heißen: Leistung nur nach Gegenleistung. Sozialhilfe erhielten nur noch EU-Bürger, die in Deutschland auch längere Zeit gearbeitet hätten. Im Arbeitsministerium hegt man Sympathien für eine solche Regelung, doch der Teufel stecke im Detail, heißt es. Viel hänge etwa an der Frage, wie man Beschäftigung genau definiere. Der Sozialstaat solle zwar nicht jedem sofort offen stehen, aber der Zugang dazu dürfe eben auch nicht kategorisch ausgeschlossen werden, sonst drohe eine unlautere Diskriminierung.
Knifflig, ja. Auch, weil es nicht nur um Politisches geht. Passen die Verantwortlichen nicht auf, könnte der Europäische Gerichtshof die schöne neue nationale Flexibilität rasch wieder kippen.