In der britischen Unternehmerschaft wächst einer Umfrage zufolge die Zustimmung für einen Austritt aus der EU. Die Britische Handelskammer teilte am Dienstag mit, 37 Prozent ihrer Mitglieder seien nun für einen Austritt. In der vorangegangenen Umfrage waren es lediglich 30 Prozent. Die Zahl der Befürworter eines Verbleibs sei von 60 auf 54 Prozent zurückgegangen. Die Handelskammer, einer der beiden großen britischen Arbeitgeberverbände, hat selbst keine Empfehlung für das am 23. Juni anstehende Referendum über einen EU-Austritt Großbritanniens abgegeben. Die jetzt veröffentlichte Umfrage fand Anfang April statt.
Die Mitglieder des Verbands der britischen Industrie (CBI), dem vor allem größere Unternehmen angehören, hatten sich in einer Umfrage im März zu 80 Prozent für einen EU-Verbleib des Landes ausgesprochen. Unter den britischen Wählern halten sich den Umfragen zufolge Anhänger und Gegner einer EU-Mitgliedschaft annähernd die Waage.
Heiße Wahlkampfphase für EU-Referendum beginnt
Derweil haben die prominentesten Vertreter beider Lager gut sechs Wochen vor dem Referendum die heiße Phase des Wahlkampfs eröffnet. Premierminister David Cameron warnte seine Landsleute in einer Rede am Montag eindringlich vor Sicherheitsrisiken, sollten sie am 23. Juni bei der Volksabstimmung für ein Nein Großbritanniens zur EU votieren. Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson, der prominenteste Befürworter eines britischen EU-Ausstiegs, ließ wenig später durchblicken, dass Migration eines der zentralen Themen des Wahlkampfs werden soll.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz (SPD), forderte die proeuropäischen Kräfte zum offensiven Eintreten für die Europäische Union auf. „Es ist an der Zeit, für dieses Europa zu kämpfen“, sagte er vor dem EU-Parlament in Straßburg. „Wir dürfen uns nicht von den Gegnern der europäischen Einigung leiten lassen. Wir können mit Mut und Zuversicht unsere Europäische Union weiter voranbringen.“ Die EU stehe möglicherweise „vor einer entscheidenden Zerreißprobe“, sagte Schulz am Europatag, ohne auf das britische EU-Referendum oder den Streit um die Flüchtlingspolitik in der Union einzugehen.
Boris Johnson gab sich kaum weniger pathetisch als der Premierminister. Während seiner Rede sang er Teile aus der von Beethoven vertonten „Ode an die Freude“, um zu beweisen, dass er ein begeisterter Europäer ist. „Wenn wir die EU verlassen, verlassen wir keineswegs Europa“, sagte Johnson, der sich gegen damit nach eigener Aussage gegen Kritik wehrte, er gehöre einer fremdenfeindlichen Gruppe von EU-Gegnern an.
Camerons Befürchtungen um die Sicherheit Großbritanniens wies Johnson zurück. Man könne die Zusammenarbeit mit den EU-Staaten im Sicherheitsbereich auch auf anderem Wege regeln, sagte er. Auch für Großbritanniens Wirtschaft sieht Johnson bei einem EU-Austritt keine Gefahr.
Johnson legte dafür viel Wert auf das Thema Migration. Drei von fünf Fragen, die Johnson am Montag als zentral ankündigte, drehen sich darum, wie Einwanderer aus Großbritannien ferngehalten werden können. „Ich denke, es befremdet die Menschen, dass die grundlegendste Kompetenz eines Staates, zu bestimmen, wer im Land lebt und arbeitet, jetzt in Brüssel liegt“, sagte Johnson.