WirtschaftsWoche: Professor Fuest, Sie sind als ifo-Chef jetzt gut 100 Tage im Amt. Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie in München vorgefunden haben?
Clemens Fuest: Das Institut ist lebendig, leistungsstark und verfügt über exzellente internationale Kontakte. Die Zusammenarbeit mit der Universität München funktioniert ausgezeichnet, Politik und Wirtschaft haben großes Interesse an der Arbeit, die hier gemacht wird. Mehr kann man nicht verlangen.
Ihr Amtsvorgänger Hans-Werner Sinn hat polarisiert und ging keinem Streit aus dem Weg. Sie treten eher sachlich-kühl auf. Ist das für die öffentliche Wahrnehmung kein Problem?
Nein. Hans-Werner Sinn hat sich auf unverwechselbare Weise in öffentliche Debatten eingebracht. Ich habe meinen eigenen Stil. Man muss authentisch sein. Probleme, in öffentlichen Debatten wahrgenommen zu werden, habe ich nicht.
Zur Person
Clemens Fuest, 47, ist seit April Präsident des ifo Instituts und VWL-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor leitete der in Münster geborene Ökonom das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und lehrte fünf Jahre in Oxford.
Sinn ist weiter sehr präsent – in den Medien, aber auch am Institut, wo er noch ein Büro hat. Stört Sie das?
Es wäre doch merkwürdig, wenn sich ein Ökonom wie Hans-Werner Sinn über Nacht nicht mehr zu wirtschaftlichen Fragen äußern würde. Mich stört das nicht, im Gegenteil.
Das Sagen haben jetzt Sie. Wie wollen Sie das ifo Institut verändern?
In jedem Fall werden wir zwei Bereiche ausbauen. Zum einen die Steuer- und Finanzpolitik, hier bin ich dabei, eine neue Forschungsgruppe aufzubauen. Zum Zweiten möchte ich einen Schwerpunkt auf europäische Wirtschaftspolitik legen. Das Institut wird sich noch stärker als bisher in europäische Debatten einbringen, etwa zur Reform der Euro-Zone und des EU-Budgets. Wir werden auch verstärkt der Frage nachgehen, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse besser in die Öffentlichkeit und Politik transportieren lassen.
Damit sollten Sie schnell anfangen. Beim Brexit hat die Ökonomenzunft nahezu einhellig vor den negativen Folgen gewarnt. Hören wollte das niemand ...
... was auch an einer von Populisten stark beeinflussten öffentlichen Meinung liegt. Mittlerweile räumen aber auch viele Brexit-Befürworter ein, dass die Warnungen der Ökonomen berechtigt waren.
Welche Strategie sollte die EU in den Austrittsverhandlungen mit Großbritannien fahren?
Die EU sollte die Gespräche kooperativ, nicht konfrontativ führen. Ich sehe allerdings eher die Gefahr einer Trotzreaktion. In der EU ist die Haltung verbreitet, man müsse die Briten regelrecht bestrafen, damit es keine Nachahmer gibt. Ich halte das für eine große Dummheit. Wer Europa endgültig zerlegen will, sollte diesen Weg gehen.
Wollen Sie den Briten Rosinenpickerei ermöglichen? Wer die EU verlässt, kann schwerlich ihre Vorzüge genießen, die Pflichten aber ablehnen.
Das Bild des Rosinenpickens ist eingängig, passt aber nicht zur tatsächlichen Lage. Europa hat ein hohes ökonomisches Eigeninteresse, möglichst große Teile der britischen Wirtschaft im Binnenmarkt zu halten. Man will ja auch, dass sich Großbritannien weiter finanziell an EU-Programmen beteiligt.
"Investitionen helfen nur weiter, wenn sie effizient sind"
Die EU will Großbritannien die Vorzüge des Binnenmarkts künftig nur gewähren, wenn das Land die Migrationsfreiheit der EU-Bürger akzeptiert. Ist dieses Junktim sinnvoll?
An den Grundprinzipien des Binnenmarktes für Güter und Dienstleistungen darf nicht gerüttelt werden. Aber die EU sollte darüber nachdenken, ob ihr Regelwerk zur Wanderungsfreiheit der Weisheit letzter Schluss ist. Auf Dauer ist freie Migration nicht mit einem ausgebauten Sozialstaat vereinbar. Wanderungsfreiheit sollte nicht die freie Einwanderung in die Sozialsysteme bedeuten: Wer einen Job in einem anderen EU-Staat findet, sollte dort problemlos hinziehen können. Wer nicht selbst für sich sorgen kann, eben nicht. Wenn wir eine Zuwanderung in die Sozialsysteme stärker begrenzen als bisher, dürfte es den Briten leichter fallen, Migrationsfreiheit als Teil des Binnenmarkts zu akzeptieren.
Gegen die Akzeptanzprobleme der EU empfiehlt Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) neue Investitionsprogramme. Eine gute Idee?
Das Wort Investition klingt gut, und es ist richtig, dass es im Bereich der grenzüberschreitenden öffentlichen Infrastruktur in Europa sinnvolle Projekte gibt. Aber die Frage ist: Wer investiert in was – und wie wird das finanziert? Wenn Politiker von Investitionen reden, meinen sie oft, dass sie neue Schulden machen wollen. Investitionen helfen nur weiter, wenn sie effizient sind. Für private Investitionen sind dazu angemessene Rahmenbedingungen erforderlich. In vielen Sektoren fehlen die, etwa im Energiesektor. Sigmar Gabriel hat hier einiges verbessert. Aber es bleibt viel zu tun.
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
Aus Südeuropa und Frankreich kommt die Forderung, die Auflagen des Stabilitätspakts zu lockern. Lässt sich so die Wirtschaft ankurbeln?
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist schon so sehr aufgeweicht, dass man ihn kaum noch lockern kann. Es beachtet ihn ohnehin kaum jemand. Davon abgesehen sind schuldenfinanzierte Programme der falsche Weg. Schulden sind schon jetzt das größte wirtschaftliche Stabilitätsrisiko in Europa. Die Politik sollte sich darauf konzentrieren, die Sanierung der Banken in der Euro-Zone voranzutreiben. Und sie sollte die fiskalische Konsolidierung wachstumsfreundlicher gestalten, also mehr auf Kürzungen konsumtiver statt investiver Ausgaben setzen und weniger Steuern erhöhen.
Brauchen wir weniger oder mehr Integration in Europa?
Weder noch. Die EU kann auf der Basis ihrer Verträge und Institutionen bei vielen aktuellen Herausforderungen wie etwa der Flüchtlingskrise einiges beitragen. Das erfordert allerdings die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Mitgliedstaaten dürfen sich nicht länger vor Reformen drücken und sollten aufhören, wirtschaftliche und soziale Probleme der europäischen Integration und der Brüsseler Politik anzulasten. An vielen Missständen sind nicht anonyme Eurokraten schuld, sondern nationale Regierungen. In vielen Fällen sprechen wir vom Versagen der EU – tatsächlich versagen aber die Mitgliedstaaten.
"Die Stabilisierung Osteuropas durch die EU war eine großartige Leistung"
Jeder macht, was er will?
Wir erleben immer wieder, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten – etwa in der Fiskal- und Flüchtlingspolitik – in Brüssel Dinge beschließen, die sie zu Hause nicht vertreten und politisch umsetzen. Diese Diskrepanz ist für den Erfolg der EU eine größere Hürde als die Brüsseler Bürokratie oder das viel kritisierte Führungspersonal in der Kommission.
Welches Thema muss auf der politischen Agenda der EU jetzt ganz oben stehen?
Die Sanierung des Bankensektors. Sie ist die entscheidende Voraussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung in Europa. Wichtig ist auch eine Entrümpelung des EU-Haushalts. Da werden vor allem in der Agrar- und Regionalpolitik Milliarden für unsinnige Dinge ausgegeben, die mit Europa nichts zu tun haben. Die EU sollte ihr Geld stärker auf Projekte konzentrieren, bei denen die Tätigkeit der EU einen Mehrwert erbringt, zum Beispiel bei grenzüberschreitenden Vorhaben und in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Kommissionspräsident Juncker hat eine weitere Idee: Alle EU-Länder, die den Euro noch nicht haben, sollen ganz schnell der Währungsunion beitreten.
Dieser Vorschlag als Reaktion auf den Brexit ist vollkommen weltfremd. Derartige Vorstöße führen eher zu einer weiteren Erosion der Autorität und Akzeptanz der EU.
Hat der Brexit langfristige Folgen auf den Euro?
Wenn es nicht gelingt, den Brexit einigermaßen kooperativ zu gestalten, und großer wirtschaftlicher Schaden entsteht, wird das auch die Entwicklung der Euro-Zone beeinträchtigen.
Für viele Experten ist die EU auch wegen ihrer Größe handlungsunfähig. Sollte es einen Aufnahmestopp geben?
Nein. Balkanstaaten wie Serbien sollten aufgenommen werden, wenn sie die Bedingungen erfüllen. Sonst bekommen wir dort vor unserer Haustür irgendwann Zustände wie in der Ukraine. Die politische und wirtschaftliche Stabilisierung Osteuropas durch die EU war eine großartige Leistung! Es ist gefährlich, dass dies in der öffentlichen Debatte kaum noch durchdringt. Politiker sollten auf diese Erfolge hinweisen, statt sich auf Kosten der EU zu profilieren.
Eine persönliche Frage zum Schluss: Welche Ökonomen schätzen Sie am meisten?
Zum einen Richard Musgrave, der grundlegende Beiträge zur Rolle des Staates in der Marktwirtschaft geleistet hat. Und zum zweiten James Buchanan, der für die liberale, eher staatskritische Schule in der Finanzwissenschaft steht und in gewisser Weise ein Gegenspieler von Musgrave ist. Beide waren entscheidend für die Entwicklung des Faches – und für mein eigenes Denken als Ökonom.