David Cameron EU-Chefs tagen ohne britischen Premier

London hat nach dem Brexit-Referendum noch nicht einmal offiziell seinen Wunsch mitgeteilt, die EU zu verlassen. Doch Europa schafft Tatsachen. Die Phase der Unsicherheit soll nicht lange dauern.

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Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Nur sechs Tage nach dem historischen Brexit-Referendum treffen sich die Chefs von 27 EU-Staaten in Brüssel - ohne das austrittswillige Großbritannien. Sie wollen über die Zukunft der Europäischen Union sprechen, wie EU-Ratspräsident Donald Tusk am frühen Mittwochmorgen in Brüssel ankündigte. Mit dieser Zusammenkunft bricht eine neue Ära an. Diplomaten sagten, es solle auch ein erster Zeitplan für das weitere Vorgehen skizziert werden. Eine Wegmarke steht schon fest: Im September soll es im slowakischen Bratislava einen informellen Sondergipfel geben - wieder ohne die Briten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) machte in der Nacht nach einer Gipfeldebatte mit dem scheidenden Premier David Cameron deutlich, dass sie das britische Austrittsvotum für unumstößlich hält. „Ich sehe keinen Weg, das wieder umzukehren“, sagte sie.

Dies sei nicht die Stunde von „wishful thinking“ - von Wunschdenken. „Das Referendum steht da als Realität“, sagte Merkel. Sie begrüßte den geplanten Sondergipfel. „Das ist ein guter nächster Schritt.“ Cameron resümierte: „Unsere Partner in der Europäischen Union sind wirklich traurig, dass wir vorhaben, diese Organisation zu verlassen.“ Auch er sei traurig, weil er Großbritannien als Mitglied einer reformierten EU habe halten wollen. Er habe viele Zusicherungen erhalten, dass sein Land bis zum Tag seines Austritts ein zahlendes EU-Mitglied mit allen Rechten bleibe, sagte Cameron.

Die EU-Partner forderten ihn am ersten Gipfeltag auf, so schnell wie möglich Klarheit über den Austritt zu schaffen. „Wir haben nicht Monate Zeit zum Nachdenken“, sagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Bevor London seinen Austrittswunsch nicht offiziell in Brüssel mitteile, werde es keine Verhandlungen geben. Der EU-Vertrag setzt für Austrittsverhandlungen einen Rahmen von zwei Jahren.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Bei der Brexit-Abstimmung in der vergangenen Woche hatten 51,9 Prozent der Wähler für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gestimmt. Der konservative Cameron hatte daraufhin seinen Rücktritt für den Herbst angekündigt. EU-Gipfelchef Tusk sagte, die Staats- und Regierungschefs wollten Einzelheiten über die Absichten der britischen Regierung wissen. Cameron habe deutlich gemacht, dass die Entscheidung über den Austrittsantrag von der neuen Führung in seinem Land gefällt werden solle - das bedeutet also frühestens im Herbst, falls es beim Londoner Zeitplan bleiben sollte. Die Chefs hätten Verständnis dafür, „dass einige Zeit nötig ist, damit sich der Staub im Vereinigten Königreich legen kann“, sagte Tusk.

"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa

Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, warnte in der Spitzenrunde vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexits. Das Wachstum in der Eurozone könne in den nächsten drei Jahren um insgesamt 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte geringer ausfallen als angenommen, warnte der mächtige Notenbanker laut Diplomaten. Ein geringeres Wachstum in Großbritannien werde Auswirkungen auf die Eurozone als wichtigsten Handelspartner der Briten haben.

Frankreichs Präsident François Hollande will bei den Verhandlungen über den künftigen Zugang Großbritanniens zum europäischen Binnenmarkt keinerlei Kompromisse akzeptieren. Wenn das Königreich weiterhin Zugang habe wolle, müsse es die vier Grundfreiheiten respektieren, sagte er in der Nacht zum Mittwoch beim EU-Gipfel in Brüssel. Es sei ausgeschlossen, dass Großbritannien vom freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital profitiere, gleichzeitig aber die Freizügigkeit von Personen einschränke. „Es sind die vier Freiheiten oder keine“, sagte er. Zudem werde Großbritannien wie zum Beispiel das Nicht-EU-Land Norwegen Geld in den EU-Haushalt einzahlen müssen.

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