David Cameron tritt zurück Politisches Erdbeben in Großbritannien

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Briten wollen weniger Ausländer im Land


Das zeigte sich auch am Donnerstag, dem Tag des Referendums. Für Janet und Ken, Fans von der Fußballmannschaft West HamUnited aus dem Ostlondoner Stadteil Newham, die am Morgen schon früh für den EU-Austritt gestimmt hatten, gab es nie einen Zweifel: „Wir sind beide für Out, es gibt einfach zu viele Ausländer hier“, so Janet klipp und klar zur WirtschaftsWoche. Das ältere Ehepaar, er geh- und sprechbehindert -  klagte über die bekannten Missstände: lange Warteschlangen wenn Ken einen Arzt-Termin braucht, eine Sozialwohnung wurde ihnen verweigert und Ken bekam nachdem er seinen Job verloren hatte auch keine Sozialhilfe – weil er 6000 Pfund Ersparnisse hatte.

"Morgenröte eines unabhängigen Großbritannien"

Ausländer aus der EU dagegen könnten das Gesundheitswesen kostenfrei und würden auch sonst finanziell unterstützt. Janet schüttelt empört den Kopf. Von Nigel Farage, dem kontroversen Chef der United Kingdom Indpendence Party (UKIP) fühlt sich jedoch verstanden. Farage sah sich am Freitagmorgen nach einer langjährigen Kampagne für den Austritt aus der EU endlich am Ziel: „Wir erleben die Morgenröte eines unabhängigen Großbritannien“, jubelte er.


Doch nach Ansicht von Experten ist die Zukunft düster, in der makroökonomischen Diskussion herrscht diesbezüglich weitgehend Einigkeit. Die Bank of England, der Internationale Währungsfonds, die OECD und das renommierte Institut for Fiskal Studies (IFS) – sie alle hatten im Brexit-Fall vor einer Rezession gewarnt, schon im Vorfeld der Entscheidung hatten Unternehmen ihre Investitionen auf Eis gelegt.

„Dies ist ein Blutbad - nicht nur an den Finanzmärkten. Die Entscheidung wird auch in der Realwirtschaft schwerwiegende Folgen haben“, so der ehemalige Wirtschaftsminister Vince Cable in den frühen Morgenstunden dieses Schicksalstages.  Die Bank of England, die sich bereits seit Monaten auf diesen Tag vorbereitet hatte, dürfte jetzt die Zinsen senken, um die Märkte zu beruhigen, so der Volkswirt Danny Blanchflower. Blanchflower war früher ein Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Bank of England.

"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa


Auch eine Intervention am Devisenmarkt ist nicht auszuschließen, doch der Investor George Soros, der 1992 gegen die BoE gewettet und den Ausstieg des Pfundes aus der Währungsschlange EWS erzwungen hatte, glaubt, dass nun unweigerlich eine neue Pfundkrise bevorsteht: „Der Brexit wird zu einem schwarzen Freitag führen, der den schwarzen Mittwoch von 1992 in den Schatten stellt. Wir werden eine drastische Abwertung sehen, die noch größer ausfallen dürfte als die damaligen 15 Prozent“, sagte Soros dem Guardian. Anders als vor 24 Jahren werde die britische Wirtschaft aber nicht von der Abwertung profitieren können“, orakelte er.

Nicht zuletzt dürften die Ratingagenturen das Inselreich nun zurückstufen, das angesichts seines hohen Leistungsbilanzdefizits schon vorher in einer äußerst gefährlichen Lage war. Standard and Poor’s hatte vor dem Referendum bereits damit gedroht, Großbritannien beim Brexit das AAA-Rating zu entziehen. Das wird ein Problem, warnt Darren Williams, Senior Economist, Europe bei er Investmentgesellschaft AB: „Das Land ist für die Finanzierung seiner öffentlichen und privaten Haushaltsdefizite von ausländischen Investoren abhängig. Ein Brexit könnte zum Versiegen der benötigten Kapitalflüsse führen“.

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