Deutsche Mitbestimmung vor dem Europäischen Gerichtshof Ein bizarres Vorhaben der EU-Kommission

Der Prozess gegen die deutsche Mitbestimmung vor dem Europäischen Gerichtshof wirft eine zentrale Frage auf: Sind EU-Institutionen dazu berechtigt, in alle nur denkbaren nationalen Politikfelder einzugreifen?

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Der Europäische Gerichtshof. Quelle: dpa

Neben den Prozessbeteiligten schoben sich am vergangenen Dienstag etwa 100 Interessierte in den großen Sitzungssaal des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), um einer Anhörung zu folgen, die es in sich hatte.

Bekanntlich werden die Aufsichtsräte großer deutscher Unternehmen zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern besetzt. Weil der deutsche Gesetzgeber Wahlen zu den Arbeitnehmerbänken der Aufsichtsräte nur im Inland anordnen und ihre ordnungsgemäße Durchführung sicherstellen kann, bleiben die Aufsichtsratswahlen in transnationalen Konzernen auf inländische Konzernunternehmen beschränkt.

Das Berliner Kammergericht will jetzt vom europäischen Höchstgericht wissen: Ist es mit der in den europäischen Verträgen verankerten Arbeitnehmerfreizügigkeit und dem Diskriminierungsverbot vereinbar, dass ausländische Beschäftigte nicht mitwählen können (Erzberger vs. TUI, C-566/15)?

Zur Person

Wer das zum ersten Mal hört, reibt sich ungläubig die Augen. Die Mitbestimmung soll das Recht auf Freizügigkeit verletzen? Die Argumentation geht so: Wer innerhalb desselben Konzerns ins Ausland wechseln möchte, verliert die Möglichkeit, die Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat mit zu wählen. Dies hindert den Arbeitnehmer daran, ein Arbeitsplatzangebot aus dem Ausland anzunehmen. Folglich sei die in Art. 45 AEUV garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit effektiv beschränkt und die deutsche Regelung illegal.

Gewerkschaften sind alarmiert

Das scheint an den Haaren herbeigezogen – was die Europäische Kommission aber in ihrer Eingabe an den EuGH vom 9. Februar 2016 nicht davon abhielt, sich auf die Seite des Klägers im Ausgangsverfahren zu schlagen. Politik und Gewerkschaften waren alarmiert.

Aufsichtsräte mit den meisten Dax-Mandaten

In der Anhörung ruderte die Kommission nun spürbar zurück. Sie bleibt zwar dabei: Die deutsche Unternehmensmitbestimmung beschränke die Arbeitnehmerfreizügigkeit, so der Prozessvertreter der Kommission, und selbst wenn man dem nicht folge, greife immer noch das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV. Neuigkeiten gab es aber auf der so genannten Rechtfertigungsebene. Stelle sich nämlich heraus, dass eine etwaige Transnationalisierung der Aufsichtsratswahlen an der nicht gegebenen Rechtsdurchsetzungsgewalt Deutschlands im Ausland scheitern würde, dann sei die von der Mitbestimmung ausgehende Beschränkung der Freizügigkeit zu rechtfertigen.

Denn sie verfolge mit dem Arbeitnehmerschutz ein berechtigtes Ziel. Es sei dann die Aufgabe der nationalen Gerichte, darüber zu entscheiden, ob Wahlen an ausländischen Standorten möglich seien.

Verhalten der Kommission

Aus Sicht der Bundesregierung hat die Kommission mit ihrer neuen Rechtsauffassung einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Aber die Kuh ist noch nicht vom Eis. Denn die Hintertür, auf die die Kommission nunmehr verwies, wollte der dänische Generalanwalt offenbar nicht benutzen. Seine Nachfragen an die Prozessbeteiligten ließen erkennen, dass er auch weitreichende Umstrukturierungen des deutschen Mitbestimmungsrechts für zumutbar hielt, um die behauptete Verletzung der Freizügigkeit abzustellen. Welche Rechtsunsicherheit aus solchen Vorgaben folgen könnte und was sie in der Mitbestimmungspraxis anrichten würde, ist nicht absehbar.

Der Schlussantrag des Generalanwalts wurde für den 4. Mai angekündigt und mit dem Urteil dürfte dann gegen Ende des Jahres oder in den ersten Monaten des Jahres 2018 zu rechnen sein.

Auffällig ist das Verhalten der Kommission. Zunächst setzte sie auf europäisches Durchregieren und behauptete die Europarechtswidrigkeit des nach deutschem Recht mitbestimmten Aufsichtsrats. Am Dienstag unterstrich sie abermals ihre Auffassung, die Mitbestimmung konstituiere eine Binnenmarktbeschränkung, und zeigte sich lediglich auf der Rechtfertigungsebene beweglich. Von ihrer bizarren Argumentation, wer sein Wahlrecht für den Aufsichtsrat verlöre, sei am Wechsel in einen ausländischen Konzernteil gehindert, machte die Kommission also keine Abstriche.

Vor diesem Hintergrund erscheint der Titel der nach Ende der Anhörung veröffentlichten Erklärung der Kommission einigermaßen schräg: „Kommission verteidigt vor dem Gerichtshof der Europäischen Union nationale Regeln zu Mitbestimmungsrechten“. Von den potenziellen politischen Folgen ihrer Einlassungen möchte sich die Kommission offenbar schon einmal vorab distanzieren.

Wir dürfen gespannt sein, wie es weitergeht. Nicht die Politik, sondern die Große Kammer des EuGH wird über die Zukunft der Unternehmensmitbestimmung entscheiden. Es bleibt zu hoffen, dass der Fall „Erzberger vs. TUI“ eine überfällige Debatte über die immer extensivere Interpretation der europäischen Grundfreiheiten anstößt. Sind die Kommission und der EuGH dazu berechtigt, mit dem Verweis auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit in alle nur denkbaren nationalen Politikfelder einzugreifen? Waren die Grundfreiheiten wirklich dazu gedacht, Institutionen wie die Mitbestimmung oder etwa das Streikrecht zu transformieren?

Wo verläuft die Grenze zwischen dem legitimen Schutz nationaler, etwa: sozialstaatlicher Belange einerseits und illegitimem Protektionismus andererseits? Sind die europäischen Organe befugt und aufgerufen, diese Grenze an den Gesetzgebern vorbei immer weiter zu Ungunsten der nationalen Regelungsebene zu verschieben? Zu lange hat man sich vor diesen Fragen weggeduckt.

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