Deutsche Mitbestimmung vor dem Europäischen Gerichtshof Ein bizarres Vorhaben der EU-Kommission

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Verhalten der Kommission

Aus Sicht der Bundesregierung hat die Kommission mit ihrer neuen Rechtsauffassung einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Aber die Kuh ist noch nicht vom Eis. Denn die Hintertür, auf die die Kommission nunmehr verwies, wollte der dänische Generalanwalt offenbar nicht benutzen. Seine Nachfragen an die Prozessbeteiligten ließen erkennen, dass er auch weitreichende Umstrukturierungen des deutschen Mitbestimmungsrechts für zumutbar hielt, um die behauptete Verletzung der Freizügigkeit abzustellen. Welche Rechtsunsicherheit aus solchen Vorgaben folgen könnte und was sie in der Mitbestimmungspraxis anrichten würde, ist nicht absehbar.

Der Schlussantrag des Generalanwalts wurde für den 4. Mai angekündigt und mit dem Urteil dürfte dann gegen Ende des Jahres oder in den ersten Monaten des Jahres 2018 zu rechnen sein.

Auffällig ist das Verhalten der Kommission. Zunächst setzte sie auf europäisches Durchregieren und behauptete die Europarechtswidrigkeit des nach deutschem Recht mitbestimmten Aufsichtsrats. Am Dienstag unterstrich sie abermals ihre Auffassung, die Mitbestimmung konstituiere eine Binnenmarktbeschränkung, und zeigte sich lediglich auf der Rechtfertigungsebene beweglich. Von ihrer bizarren Argumentation, wer sein Wahlrecht für den Aufsichtsrat verlöre, sei am Wechsel in einen ausländischen Konzernteil gehindert, machte die Kommission also keine Abstriche.

Vor diesem Hintergrund erscheint der Titel der nach Ende der Anhörung veröffentlichten Erklärung der Kommission einigermaßen schräg: „Kommission verteidigt vor dem Gerichtshof der Europäischen Union nationale Regeln zu Mitbestimmungsrechten“. Von den potenziellen politischen Folgen ihrer Einlassungen möchte sich die Kommission offenbar schon einmal vorab distanzieren.

Wir dürfen gespannt sein, wie es weitergeht. Nicht die Politik, sondern die Große Kammer des EuGH wird über die Zukunft der Unternehmensmitbestimmung entscheiden. Es bleibt zu hoffen, dass der Fall „Erzberger vs. TUI“ eine überfällige Debatte über die immer extensivere Interpretation der europäischen Grundfreiheiten anstößt. Sind die Kommission und der EuGH dazu berechtigt, mit dem Verweis auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit in alle nur denkbaren nationalen Politikfelder einzugreifen? Waren die Grundfreiheiten wirklich dazu gedacht, Institutionen wie die Mitbestimmung oder etwa das Streikrecht zu transformieren?

Wo verläuft die Grenze zwischen dem legitimen Schutz nationaler, etwa: sozialstaatlicher Belange einerseits und illegitimem Protektionismus andererseits? Sind die europäischen Organe befugt und aufgerufen, diese Grenze an den Gesetzgebern vorbei immer weiter zu Ungunsten der nationalen Regelungsebene zu verschieben? Zu lange hat man sich vor diesen Fragen weggeduckt.

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