Die wirkliche Krise Die Europäer wissen nicht mehr, was Europa ist

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Der Brexit zeigt: Wachstum reicht nicht als Gemeinschaftskitt


Vermutlich ist das der wichtigste Grund für unser Unbehagen mit der Formulierung eines exklusiven Europas: „Die Idee Europa wurde durch Säuberung, Ausgrenzung und Vernichtung in die Welt getragen“, sagt die Historikerin Claudia Weber. „Wir müssen daher Europa als etwas in sich Gebrochenes begreifen.“ Und daher können auch die Werte, die in Europa geboren wurden, nicht als Kitt dienen. Die Europäische Union muss auch eine Wertegemeinschaft sein, aber Toleranz, Menschenrechte, Menschenwürde, das sind schließlich universelle Werte. Die sollen überall, auf der ganzen Welt gelten und taugen daher nicht als zentrale Identifikation für die Europäer.

Die real existierende Europäische Union behilft sich seit ihren Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg über den Mangel an europäischer Identitätsstiftung mit einer Art Beschäftigungstherapie hinweg. Damals waren die handfesten Ziele schließlich offensichtlich: Wohlstand schaffen, den Frieden zwischen Deutschland und Frankreich sichern, stark sein gegen die sowjetische Bedrohung. Die Ziele sind erreicht oder hinfällig geworden.

Ein europäischer Staatenbund, der sich vor allem als Gemeinschaft für immerwährendes Wirtschaftswachstum betrachtete, muss in eine Existenzkrise geraten, wenn das Versprechen der Mehrung des materiellen Wohlstands nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Ebenso wenig verwunderlich ist es, dass eine Union, die sich selbst vertraglich dazu verpflichtet „ever closer“ zu werden, früher oder später in arge Not gerät. Nichts kann immer mehr oder immer enger werden, ohne irgendwann an Grenzen dessen zu stoßen, was Menschen können oder wollen.
Die Ausstiegsentscheidung der Briten zeigt: Die immer weniger glaubhafte Aussicht auf Wirtschaftswachstum allein kittet die Europäer nicht zusammen. Wirtschaftliche Rationalität ist kein Ersatz für eine gemeinsame Identität. Erst recht nicht, wenn die ökonomischen Interessen innerhalb Europas ebenso wie innerhalb der Nationen immer stärker auseinander driften.
Wo könnte die Identität herkommen, wenn nicht aus dem, was Europa in seiner ganzen Vielfalt doch erfahrbar vereint: Kultur. Was Europa über alle Regionen und Nationen hinweg zusammenhält, ist die gemeinsame Geschichte, mit den kulturellen Schätzen, die daraus entstanden sind. In der Gründungsphase der Europäischen Union war die Erinnerung der Gründer noch durch europäische Kriege und Menschheitsverbrechen geprägt. Doch das Vermächtnis der europäischen Geschichte sollte eben nicht nur die Mahnung sein, Frieden zu bewahren.

Was hat die EU den Bürgern gebracht?
ReisefreiheitIn Europa verreisen, ohne an der Grenze den Pass vorzeigen zu müssen - das können mehr als 400 Millionen EU-Bürger. Basis dafür ist das Schengener Abkommen von 1985, dem inzwischen 26 Staaten - darunter Deutschland - angehören. Diese Länder kontrollieren Reisende an den Grenzen untereinander nur per Stichprobe oder bei Großereignissen. Zum Schengen-Raum gehören neben 22 EU-Ländern auch Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein. Die Landgrenzen des Areals sind mehr als 7700 Kilometer lang. Quelle: dpa
Glühlampen-VerbotEin von EU-Kritikern gern vorgebrachtes Argument ist das Verbot der geliebten Glühlampe. Doch stammt das Verbot nicht aus Brüssel, sondern nahm unter dem damaligen Umweltminister Sigmar Gabriel im Jahr 2007 Gestalt an. Die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel wollte sich als Vorreiter in Sachen Klimaschutz präsentieren und brachte die Idee beim EU-Gipfel ein, der es abnickte. Später winkte auch das Parlament den Vorstoß durch - die Kommission war dabei also vor allem ausführendes Organ, und keiner der Mitgliedsstaaten erhob Einspruch. Quelle: dpa
BankenkontrolleNie mehr sollen Banken mit riskanten Geschäften Europa an den Rande des Abgrunds bringen - so lautet die Lehre aus der Krise. Dafür sollen bessere Kontrollen sorgen. Von November 2014 an wird es eine zentrale Bankenaufsicht („Single Supervisory Mechanism“/SSM) unter dem Dach der Europäischen Zentralbank (EZB) geben, die die 130 größten und wichtigsten Banken im Euroraum direkt überwacht. Von 2016 an greifen gemeinsame Regeln zur Sanierung und - im Notfall - Schließung von Banken („Single Resolution Mechanism“/SRM). Dies schützt die Sparer, weil im Fall der Schieflage einer Bank zunächst deren Aktionäre herangezogen werden. Die EU hat auch die Bonus-Zahlungen für Banker begrenzt. Quelle: dpa
Karamellbonbon-VerordnungDiese Verordnung ist eine Legende, allerdings eine besonders hartnäckige. Immer wieder wird dieses angebliche Zitat, in leicht abgewandelter Form, hervorgezaubert - etwa in einer Ausgabe des "Spiegel" von 1974:"Das Vaterunser hat 56 Wörter, die Zehn Gebote haben 297 und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300. Aber eine Verordnung der EWG-Kommission über den Import von Karamellen und Karamellprodukten zieht sich über 26.911 Wörter hin." Der Ausspruch wird Alwin Münchmeyer, dem damaligen Präsidenten des Bundesverbands deutscher Banken, zugeschrieben. Eine solche Karamell-Verordnung hat es jedoch nie gegeben. Das tut der Popularität des Ausspruchs aber keinen Abbruch, der immer wieder gern als Argument für das bürokratische Monstrum EU angeführt wird. Quelle: Fotolia
RoamingSeit Jahren macht die EU-Kommission Telekom-Anbietern Druck, die Preise beim Handy-Telefonieren im EU-Ausland zu senken. Seit 2007 sind diese Gebühren für Telefonate, SMS und mobiles Internet-Surfen laut EU-Kommission um mehr als 80 Prozent gesunken. Vom 1. Juli an dürfen abgehende Telefonate nicht mehr als 19 Cent pro Minute kosten - heute sind es 24 Cent (jeweils plus Mehrwertsteuer). Brüssel will Roaming-Gebühren in zwei bis drei Jahren vollständig abschaffen. Quelle: dpa
EurokriseDie Überwindung der Euro-Schuldenkrise gilt als große Gemeinschaftsleistung Europas. Seit 2010 haben die Euro-Staaten milliardenschwere Rettungsschirme (EFSF und ESM) gegründet, um Krisenstaaten finanziell unter die Arme zu greifen. Fünf Länder - neben Griechenland auch Irland, Portugal, Spanien und Zypern - erhielten Hilfspakete. Inzwischen hat sich die Lage gebessert. Die Anleger kaufen wieder Papiere der Krisenländer, weil sie wissen, dass die Europartner, allen voran Deutschland, hinter dem Euro stehen. Doch bei der Bewältigung der sozialen Folgen der Krise tut sich die EU schwer. Die Arbeitslosigkeit in Südeuropa ist hoch, fast jeder vierte ist in Spanien und Griechenland ohne Job. Bei Protesten machen enttäuschte Bürger die Sparpolitik der EU dafür verantwortlich. Quelle: dpa
ÖlkännchenBrüsseler Bürokraten werden regelmäßig beschuldigt, mit Verwaltungsschikanen das Leben der Bürger zu stören. Eine Niederlage erlitt die EU-Kommission im vergangenen Jahr mit Plänen, offene Ölkännchen in Restaurants zu verbieten. Auf den Tischen sollten nur noch Einweg-Ölflaschen stehen, damit Gäste an der Flasche das Öl erkennen konnten. Brüssel erntete Hohn und Spott und begrub die Pläne. Quelle: dpa

„Wo bitte geht es nach Europa?“ war der Titel des Symposiums. Die Teilnehmer konnten den Weg nicht so recht finden - dabei waren sie schon längst da. Sie saßen in einem Kloster, dessen Wurzeln ins 12. Jahrhundert zurückreichen – an der Nahtstelle zweier europäischer Sprach- und Kulturräume. Mit einer Bibliothek von mehreren 10 000 Werken aus fünf Jahrhunderten. Was Europa eigentlich sei, beantwortete dann ein deutsch-südtirolisch-italienisches Musikertrio mit einer Zusammenstellung flämischer, spanischer, französischer, englischer, deutscher und italienischer Werke aus Renaissance und Barock. Auf Saiten-Instrumenten, deren Ursprünge in den alten Orient zurückzuverfolgen sind.

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