Da kamen über ein Dutzend kluge, gebildete Europäer an einem unbezweifelbar europäischen Ort zusammen, die alle mehr oder weniger professionell damit ihr Brot verdienen, über Europa nachzudenken und zu schreiben. Doch auszudrücken, was dies Europa eigentlich sei, um das man sich nicht erst seit den immer neuen Krisen der Gegenwart so viele Worte und Sorgen macht, das fiel erschreckend schwer.
Vermutlich hätten andere europäische Journalisten und Wissenschaftler an einem anderen europäischen Ort ähnliche Schwierigkeiten gehabt, wie die vor wenigen Tagen von der „Gerda-Henkel-Stiftung“ und dem „Denkwerk Zukunft“ ins malerische Kloster Neustift nach Südtirol geladenen.
Das ist wohl die tiefste, die Meta-Krise Europas: Dass die Europäer nicht wissen, wer sie sind und was sie im innersten zusammenhalten soll. Und dies ausgerechnet in einer Epoche, die kaum zwei Begriffe so inflationär hinausplaudert wie „Europa“ und „Integration“. Doch warum sollten sich europäische Nationen miteinander integrieren? Und wie soll sich ein arabischer oder afrikanischer Einwanderer integrieren, wenn man ihm nicht recht erklären kann, was dieses „wir“ ausmacht, zu dessen Teil er werden soll. Ist Europa nicht mehr als die Bezeichnung eines geographischen Wurmfortsatzes des asiatischen Kontinents mit Staaten, die vergleichsweise enorm wohlhabend, tolerant, offen und daher attraktiv sind?
Die Sorge schien den Gästen des Symposiums nicht sonderlich auf den Nägeln zu brennen – mit Ausnahme des einzigen von ihnen, der selbst aus einem eindeutig nicht-europäischen Land stammte. Bassam Tibi, in Syrien geborener in Amerika mehr als in seiner Wahlheimat Deutschland geschätzte Nestor der Islamologie, machte aus seinem Entsetzen keinen Hehl: „Sie hier sind sich nicht einig, was Europa ist. Ich schäme mich für Sie“, rief er in die Runde. Da das Bewusstsein dafür, eine Zivilisation zu sein, verloren gegangen sei, sehe er Europa im Verfall.
Darauf gab es, das war nicht weniger deprimierend als Tibis Ausruf selbst, weder Widerspruch noch Zustimmung. Vielleicht, das wäre die hoffnungsloseste Erklärung, weil der Verfall in vielen Köpfen schon eingepreist ist.
Eine etwas optimistischere Deutung wäre, dass es wohl nie eine widerspruchsfreie Eindeutigkeit über Europa gab. Europa ist, wie Soziologe Meinhard Miegel zur Einleitung feststellte, nun mal „etwas Sonderbares“.
Da also Europa weder mit einem geographischen Raum noch mit einem Staatenbund namens „Europäische Union“ gleichgesetzt werden kann, suchten und suchen viele Europäer Halt in einer Idee. Die könnte so gehen: Europa als Ergebnis einer historischen Synthese der griechischen Philosophie, des römischen Rechts und der jüdisch-christlichen Vorstellung eines einzigen, barmherzigen Gottes. Woraus in der Renaissance und letztlich in der Aufklärung dann eine säkulare Zivilisation wurde. Ja, das könnte man so sehen. Bassam Tibi tut es.
Aber dazu gehört dann eben auch die Feststellung, dass diese Zivilisation im Widerspruch zu anderen steht. Zu jeder sinnvollen Aussage über Europa gehört notwendigerweise die Erkenntnis, dass es irgendwo endet. Dass es neben dem „wir“ auch die „anderen“ gibt. Und das ist schwierig, unbequem, erscheint unfreundlich oder gar diskriminierend. Man erinnert sich an europäische Kolonialherrscher, die mit weißen Kleidern und Tropenhelm ihre Andersartigkeit und Überlegenheit gegenüber den „Wilden“ demonstrierten, die sie unterwarfen, ausbeuteten und schließlich „zivilisieren“ wollten.
Der Brexit zeigt: Wachstum reicht nicht als Gemeinschaftskitt
Vermutlich ist das der wichtigste Grund für unser Unbehagen mit der Formulierung eines exklusiven Europas: „Die Idee Europa wurde durch Säuberung, Ausgrenzung und Vernichtung in die Welt getragen“, sagt die Historikerin Claudia Weber. „Wir müssen daher Europa als etwas in sich Gebrochenes begreifen.“ Und daher können auch die Werte, die in Europa geboren wurden, nicht als Kitt dienen. Die Europäische Union muss auch eine Wertegemeinschaft sein, aber Toleranz, Menschenrechte, Menschenwürde, das sind schließlich universelle Werte. Die sollen überall, auf der ganzen Welt gelten und taugen daher nicht als zentrale Identifikation für die Europäer.
Die real existierende Europäische Union behilft sich seit ihren Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg über den Mangel an europäischer Identitätsstiftung mit einer Art Beschäftigungstherapie hinweg. Damals waren die handfesten Ziele schließlich offensichtlich: Wohlstand schaffen, den Frieden zwischen Deutschland und Frankreich sichern, stark sein gegen die sowjetische Bedrohung. Die Ziele sind erreicht oder hinfällig geworden.
Ein europäischer Staatenbund, der sich vor allem als Gemeinschaft für immerwährendes Wirtschaftswachstum betrachtete, muss in eine Existenzkrise geraten, wenn das Versprechen der Mehrung des materiellen Wohlstands nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Ebenso wenig verwunderlich ist es, dass eine Union, die sich selbst vertraglich dazu verpflichtet „ever closer“ zu werden, früher oder später in arge Not gerät. Nichts kann immer mehr oder immer enger werden, ohne irgendwann an Grenzen dessen zu stoßen, was Menschen können oder wollen.
Die Ausstiegsentscheidung der Briten zeigt: Die immer weniger glaubhafte Aussicht auf Wirtschaftswachstum allein kittet die Europäer nicht zusammen. Wirtschaftliche Rationalität ist kein Ersatz für eine gemeinsame Identität. Erst recht nicht, wenn die ökonomischen Interessen innerhalb Europas ebenso wie innerhalb der Nationen immer stärker auseinander driften.
Wo könnte die Identität herkommen, wenn nicht aus dem, was Europa in seiner ganzen Vielfalt doch erfahrbar vereint: Kultur. Was Europa über alle Regionen und Nationen hinweg zusammenhält, ist die gemeinsame Geschichte, mit den kulturellen Schätzen, die daraus entstanden sind. In der Gründungsphase der Europäischen Union war die Erinnerung der Gründer noch durch europäische Kriege und Menschheitsverbrechen geprägt. Doch das Vermächtnis der europäischen Geschichte sollte eben nicht nur die Mahnung sein, Frieden zu bewahren.
„Wo bitte geht es nach Europa?“ war der Titel des Symposiums. Die Teilnehmer konnten den Weg nicht so recht finden - dabei waren sie schon längst da. Sie saßen in einem Kloster, dessen Wurzeln ins 12. Jahrhundert zurückreichen – an der Nahtstelle zweier europäischer Sprach- und Kulturräume. Mit einer Bibliothek von mehreren 10 000 Werken aus fünf Jahrhunderten. Was Europa eigentlich sei, beantwortete dann ein deutsch-südtirolisch-italienisches Musikertrio mit einer Zusammenstellung flämischer, spanischer, französischer, englischer, deutscher und italienischer Werke aus Renaissance und Barock. Auf Saiten-Instrumenten, deren Ursprünge in den alten Orient zurückzuverfolgen sind.