Die wirkliche Krise Die Europäer wissen nicht mehr, was Europa ist

Hinter der ökonomischen und der politischen Krise Europas steckt eine noch tiefer reichende: Die Europäer haben vergessen, was Europa ausmacht. Dabei liegt es als ein unermesslicher Schatz direkt vor ihnen.

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Was ist, Europa? Quelle: Marcel Stahn

Da kamen über ein Dutzend kluge, gebildete Europäer an einem unbezweifelbar europäischen Ort zusammen, die alle mehr oder weniger professionell damit ihr Brot verdienen, über Europa nachzudenken und zu schreiben. Doch auszudrücken, was dies Europa eigentlich sei, um das man sich nicht erst seit den immer neuen Krisen der Gegenwart so viele Worte und Sorgen macht, das fiel erschreckend schwer.
Vermutlich hätten andere europäische Journalisten und Wissenschaftler an einem anderen europäischen Ort ähnliche Schwierigkeiten gehabt, wie die vor wenigen Tagen von der „Gerda-Henkel-Stiftung“ und dem „Denkwerk Zukunft“ ins malerische Kloster Neustift nach Südtirol geladenen.
Das ist wohl die tiefste, die Meta-Krise Europas: Dass die Europäer nicht wissen, wer sie sind und was sie im innersten zusammenhalten soll. Und dies ausgerechnet in einer Epoche, die kaum zwei Begriffe so inflationär hinausplaudert wie „Europa“ und „Integration“. Doch warum sollten sich europäische Nationen miteinander integrieren? Und wie soll sich ein arabischer oder afrikanischer Einwanderer integrieren, wenn man ihm nicht recht erklären kann, was dieses „wir“ ausmacht, zu dessen Teil er werden soll. Ist Europa nicht mehr als die Bezeichnung eines geographischen Wurmfortsatzes des asiatischen Kontinents mit Staaten, die vergleichsweise enorm wohlhabend, tolerant, offen und daher attraktiv sind?

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Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Die Sorge schien den Gästen des Symposiums nicht sonderlich auf den Nägeln zu brennen – mit Ausnahme des einzigen von ihnen, der selbst aus einem eindeutig nicht-europäischen Land stammte. Bassam Tibi, in Syrien geborener in Amerika mehr als in seiner Wahlheimat Deutschland geschätzte Nestor der Islamologie, machte aus seinem Entsetzen keinen Hehl: „Sie hier sind sich nicht einig, was Europa ist. Ich schäme mich für Sie“, rief er in die Runde. Da das Bewusstsein dafür, eine Zivilisation zu sein, verloren gegangen sei, sehe er Europa im Verfall.
Darauf gab es, das war nicht weniger deprimierend als Tibis Ausruf selbst, weder Widerspruch noch Zustimmung. Vielleicht, das wäre die hoffnungsloseste Erklärung, weil der Verfall in vielen Köpfen schon eingepreist ist.
Eine etwas optimistischere Deutung wäre, dass es wohl nie eine widerspruchsfreie Eindeutigkeit über Europa gab. Europa ist, wie Soziologe Meinhard Miegel zur Einleitung feststellte, nun mal „etwas Sonderbares“.
Da also Europa weder mit einem geographischen Raum noch mit einem Staatenbund namens „Europäische Union“ gleichgesetzt werden kann, suchten und suchen viele Europäer Halt in einer Idee. Die könnte so gehen: Europa als Ergebnis einer historischen Synthese der griechischen Philosophie, des römischen Rechts und der jüdisch-christlichen Vorstellung eines einzigen, barmherzigen Gottes. Woraus in der Renaissance und letztlich in der Aufklärung dann eine säkulare Zivilisation wurde. Ja, das könnte man so sehen. Bassam Tibi tut es.

Aber dazu gehört dann eben auch die Feststellung, dass diese Zivilisation im Widerspruch zu anderen steht. Zu jeder sinnvollen Aussage über Europa gehört notwendigerweise die Erkenntnis, dass es irgendwo endet. Dass es neben dem „wir“ auch die „anderen“ gibt. Und das ist schwierig, unbequem, erscheint unfreundlich oder gar diskriminierend. Man erinnert sich an europäische Kolonialherrscher, die mit weißen Kleidern und Tropenhelm ihre Andersartigkeit und Überlegenheit gegenüber den „Wilden“ demonstrierten, die sie unterwarfen, ausbeuteten und schließlich „zivilisieren“ wollten.

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