Einbecker Bürgerspital Wie sich eine Klinik selbst aus dem Abgrund zieht

Feige Politiker, erfolgloses Herumwurschteln der Betreiber: Als die Klinik im niedersächsischen Einbeck pleite geht, erfinden Bürger und Angestellte sie neu. Ein spannendes Vorbild für viele deutsche Krankenhäuser.

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Bürgerspital Einbeck: Chefarzt Olaf Städtler mit einem Patienten Quelle: Michael Löwa für WirtschaftsWoche

Wenn’s hilft, schreit Olaf Städtler herzhaft und ausdauernd. Vor dem Chefarzt im Einbecker Krankenhaus liegt ein Patient, die Brust verkabelt zur Kontrolle des Herzschrittmachers. Der Rentner mit dem zurückgekämmten Silberhaar erzählt, sein neues Hörgerät tauge nix, und Fernsehen schaue er sowieso lieber mit Untertiteln.

Also verschafft sich Städtler als Lautsprecher Gehör. „Alles in Ordnung!“, schreit er den Liegenden an. Nein, antwortet er seinem Schützling energisch, es stimme nicht, dass Schrittmacher manchmal im Brustkorb explodierten. „Und, bitte, bitte, ziehen Sie zur Kontrolle in einem halben Jahr das Hörgerät an – hat doch immerhin 3000 Euro gekostet, oder?“

Einbeck: Olaf Städtler bei einer Schrittmacher-Kontrolle Quelle: Michael Löwa für WirtschaftsWoche

Im Krankenhaus von Einbeck, einer Kleinstadt in Südniedersachsen, läuft auf den ersten Blick vieles wie in vielen anderen der knapp 2000 Kliniken in Deutschland. 40.000 Menschen leben ringsum. Sie kommen im Notfall, lassen sich an Hüfte oder Knie operieren, den Darm spiegeln, das Magengeschwür untersuchen. Alltag.

Das Haus wurde 1970 gebaut. Es ist klein, die Ausstattung bescheiden. Ein Drittel der 109 Betten steht noch in Dreierzimmern ohne Nasszelle. Das Linoleum auf den Fluren ist picobello auf Glanz gebohnert, wellt sich aber und ächzt.

Krankenhaus Einbeck Quelle: Michael Löwa für WirtschaftsWoche

Nichts ging mehr

Jahrelang haben Ärzte, Schwestern und Verwaltung um die Existenz ihrer Klinik gekämpft. Auch das ist Alltag hier. Zu klein im Vergleich zu Kliniken im nahen Northeim oder Göttingen, hieß es, zu durchwachsen die Behandlungserfolge und vor allem: ständig in den Miesen. 2012 ging nichts mehr, es ging nur noch in die Insolvenz.

Ab diesem Punkt beginnt sich die Geschichte in Einbeck anders zu entwickeln als sonst. Bei Ankunft des Insolvenzverwalters geben die Bürger meist auf, die sich an vielen Orten gegen Klinikschließungen wehren. Der Stadt gehen Jobs und Wirtschaftskraft verloren, andere Kliniken übernehmen die Patienten und hoffen, ihre Existenz sei nun gesichert. In Einbeck dagegen ging der Kampf erst richtig los.

Milliardenmarkt Krankenhaus

Als Anführer traten an: Chefarzt Städtler und Jochen Beyes, pensionierter Finanzvorstand des Saatgutherstellers KWS. Ein hemdsärmliger Arzt und ein selbstbewusster Manager. Sie lernten sich erst in der Nacht kennen, als das Aus besiegelt war. Der heute 73-jährige Beyes aktivierte andere Wohlhabende aus seinem Bekanntenkreis. Mit privatem Geld sollte das Haus offen gehalten werden. In Einbeck – wie anderswo auf dem Land – wohnen viele Ältere, die lange Wege zum Arzt scheuen.

Politiker drücken sich

Der gebürtige Leipziger Städtler, der von Betriebswirtschaft keine Ahnung hatte, bekam vom Insolvenzverwalter die Bilanzen in die Finger. „Ich habe nicht alles verstanden, wohl aber, dass man dieses Haus ohne Verlust müsste führen können“, sagt der 44-Jährige, der 2005 in das ehemalige Hansestädtchen kam und erlebt hatte, wie das Krankenhaus von Betreiber zu Betreiber erfolglos durchgereicht wurde. Jetzt schöpfte er Hoffnung.

Dass es in Einbeck so schlimm stand und viele andere Kliniken in der Republik am Rande der Pleite agieren, hat viel mit der Feigheit der Politik zu tun. Die zuständigen Landesregierungen drücken sich zu sagen, welches Krankenhaus gebraucht wird – und welches nicht. Stattdessen senkten sie über Jahre ihre Beiträge und hofften, etliche Häuser würden aufgeben. Je nach Schätzung haben die Länder über Jahre 30 bis 50 Milliarden Euro zu wenig gezahlt, um die heutige Zahl der Häuser angemessen auszustatten oder bröckelndes Gemäuer zu sanieren.

Klinikschließung oft teurer, als einfach weiterzumachen

Für die Betreiber wird eine Schließung oft teurer als das Weiterwurschteln – sie müssten hohe Subventionen zurückzahlen. Die staatlich verordnete Hungerkur förderte so ein neues Problem: Ärzte operieren nun eher, was geht, als das, was nötig ist – auch des Geldes wegen. Künstliche Knie- und Hüftgelenke oder Kaiserschnitte sind in Deutschland häufiger als in den allermeisten Industrieländern der OECD.

Deutschland hat im Vergleich zu seinen Nachbarländern zwar viele Kliniken und teure Betten, nicht aber gesündere Menschen. Auf 1000 Einwohner kommen gut acht Krankenhausbetten, in Frankreich 6,5, in der Schweiz und den Niederlanden nicht einmal fünf und in Dänemark nur drei. Jeder dritte Euro der Krankenkassen, rund 66 Milliarden Euro, geht im Jahr an die Krankenhäuser. Mit Honoraren der Privatversicherungen und Staatsgeld summiert sich das auf 90 Milliarden Euro. Trotzdem schreiben rund 40 Prozent der Häuser rote Zahlen.

Statt rote Blutkörperchen zu lesen, lernte Internist Städtler rote Zahlen zu verstehen, und fasste Ende 2012 den endgültigen Entschluss. Mit Beyes und wohlhabenden Privatleuten übernahm er das Haus.

Dem Patienten geht es gut: Die Herzfrequenz ist in Ordnung. Quelle: Michael Löwa für WirtschaftsWoche

Der Ort, der für die Erfindung des Bockbieres bekannt ist, macht seitdem auch mit Bürgerstolz von sich reden. Der ehemalige KWS-Manager erreichte, dass aus der Abwicklung eine Planinsolvenz wurde, die wohl erste einer Klinik in Deutschland. Nicht der Exitus, sondern die Genesung war das Ziel. 27 Millionen Euro Schulden wurden mit der Pleite weggewischt. „Wir sind das einzige Haus in Niedersachsen, das einen sauberen Neustart hinlegt“, sagt Beyes. Den Stolz trägt das Haus nun im Namen: Bürgerspital heißt der Betonkasten.

Schmerzhaftes Schrumpfen

Einen ähnlichen Umstieg könnten Bund und Länder bald auch anderen Kliniken ermöglichen. Darüber verhandelt seit Frühjahr eine Kommission bei Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Ein großzügiger Fonds soll helfen, Schulden abzubauen und kranke Häuser in Gesundheitsambulanzen zu verwandeln. Das wird ungemütlich, egal, ob der Staat Geld gibt. Die Einbecker wissen das. Sie mussten schrumpfen und wirtschaftlicher werden.

Die Mediziner verzichteten auf zehn Prozent ihrer Bezüge, die Krankenschwestern auf 8,5 Prozent Lohn. Drei Monate wurden gar nicht bezahlt, 70 Mitarbeiter entlassen. 280 Menschen blieben – sie teilen sich umgerechnet 190 Vollzeitstellen.

"Mehrmals wussten wir nicht, ob es weitergeht“, erinnert sich Pflegedienstleiterin Meike Kettler. „Das hat uns zusammengeschweißt.“ Die Schwestern seien im Schnitt 55 Jahre alt und wollten nicht woanders neu anfangen. Diese Treue spürten die Patienten, ist die 42-Jährige sicher. Auch wenn nun eine Pflegerin auf zehn Patienten kommt – das ist selbst in Deutschland wenig, wo Pflegende im Dauerstress sind.

Chefarzt Olaf Städtler muss zugleich auf Patientenwohl und Sparsamkeit achten. Quelle: Michael Löwa für WirtschaftsWoche

Der Arzt Städtler und der Manager Beyes bastelten einen mittelständischen Betrieb im Besitz der Bürger – der eine als Geschäftsführer, der andere als Aufsichtsrat, der hier Beirat heißt. 500.000 Euro Risikokapital brachten wohlhabende Einbecker ein – auch Städtler und Beyes beteiligten sich. Auf jeder Ladentheke im Ort standen Spendenbüchsen. Das Geld verwaltet Beyes als Treuhänder. Einmal pro Woche tritt der 73-Jährige zur Lagebesprechung an.

"Wir heften Patienten keinen Barcode an den Zeh"

Beyes, der unter den buschigen Augenbrauen sehr bestimmt schaut, ist zwar für Zahlen zuständig. Viel wichtiger ist ihm aber anderes: „Wir wollen hier nur das machen, was den Patienten nützt.“ Das Haus müsse keinen Gewinn erzielen, nur wirtschaftlich sein. „Das ist eine ganz andere Kultur als beim Helios-Konzern“, schnaubt er. Gerade hat im nahen Northeim eine neue Helios-Klinik eröffnet. Sie wollten dem „regionalen Monopolisten“ mit einem persönlichen Umgang gegenhalten.

Städtler sagt: „Wir haben kein Wunder vollbracht, wir sind auch nicht die besseren Menschen.“ Er legt aber Wert darauf, dass er sich nicht am Wettlauf beteilige, wer den Leuten am meisten andient. „Wir heften neuen Patienten keinen Barcode an den großen Zeh“, sagt er.

Einbecks wilder Ritt entlang der Pleite

Knapp zwei Jahre nach ihrer Wiederauferstehung sind die Einbecker dennoch in den schwarzen Zahlen. Statt zuletzt 126 gibt es jetzt nur noch 109 Betten. Früher waren es mal 200. In Zukunft wird das Haus noch weniger Krankenhaus und mehr Gesundheitsstation sein.

Einbeck hat aber alles, was ein Wald-und-Wiesen-Krankenhaus braucht – von der Notaufnahme bis zur Intensivstation. Die Geburtsstation ist längst dicht, andere Abteilungen sind gestutzt. Stattdessen gibt es Krankengymnastik auch für ambulante Patienten und traditionelle chinesische Medizin. Der Radiologe sitzt nicht vor Ort, sondern hat eine Praxis in der Region.

Neue Geschäftsideen

Dazu kam ein neues Angebot – vor allem für Ältere. Ein Ärzteteam aus einem benachbarten Hospital, das aufgab, bietet im Obergeschoss Schmerzmedizin und die Betreuung unheilbar Kranker. Ein Hospiz soll wohl im bisherigen Schwesternwohnheim starten – „das gibt es in dieser ländlichen Gegend nicht“, sagt Beyes. Auch sonst fand sich neues Geschäft: Die Küche bekocht nun umliegende Schulen und beliefert den Bringdienst Essen auf Rädern.

Nach dem wilden Ritt entlang der Pleite wagen die mittelständischen Gesundheitsunternehmer nun, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Dabei helfen soll der kaufmännische Geschäftsführer Hans-Martin Kuhlmann. 2013 hatte er das Angebot, nach Einbeck zu kommen, erst abgelehnt. Mit 56 Jahren war ihm der Pleitebetrieb zu unsicher. Beyes überredete ihn.

Kontrolleur Beyes (links) und Kuhlmann (rechts) beraten sich mit Städtler. Quelle: Michael Löwa für WirtschaftsWoche

Kuhlmann wirkt im Hintergrund, wenn die beiden anderen nach vorne preschen. Doch auch er ist selbstbewusst: „Vor fünf Jahren wäre so ein Modell gescheitert, heute wage ich zu sagen, dass es klappen wird.“ Politiker und Kassen würden erkennen, dass es Gesundheitszentren brauche, wenn Arztpraxen dichtmachten.

Manches könnte besser sein. Die Qualität sei nach gängigen Klinikvergleichen „noch etwas schlecht“, räumt Kuhlmann ein. „Wir messen uns aber an der Akzeptanz der Bevölkerung. Egal, welcher Qualitätsaufkleber drauf ist, die Leute kommen nur, wenn wir in deren Augen gut sind.“ Die Betten sind zu knapp 90 Prozent voll.

Ziel: Ambulante Patienten locken

Das nächste Ziel ist, mehr ambulante Patienten anzulocken, Orthopäden, Internisten und andere Spezialisten sind im Haus. Der Schritt ist heikel, die niedergelassenen Ärzte fürchten, dass ihnen dann Geschäft entgeht. Städtler wischt die Bedenken weg: „Das müssen wir schon deshalb machen, weil es auf dem Land sonst nicht mehr genügend Ärzte gibt.“ Im Krankenhaus sei vieles billiger. „Ist doch sinnvoller, wenn sich fünf Mediziner ein Ultraschallgerät teilen, als wenn jeder eins kauft.“

Sparsamkeit ist Tugend hier am Berg über der Stadt. Das finden die Miteigentümer und Spender in Ordnung. Dennoch erwarten sie einiges. Manchmal, wenn er den sehr forschen Verwandten eines Patienten am Telefon hat, stöhnt Städtler. „Jeder, der uns zehn Euro gespendet hat, fühlt sich wie der wichtigste Patient. Aber meistens geht das in Ordnung. Die sollen sich wohlfühlen.“

Weil es die Bürger genau nehmen, achtet der Arzt darauf, sein Zigarettenpäuschen am Nachmittag auf dem Balkon diskret zu absolvieren. Statt Fluppe und Rauch hält er dem Publikum seinen Rücken entgegen.

Danach lässt sich ein erschöpfter Klinikchef im Schwesternzimmer nieder. Inzwischen bekommt er sogar wieder Bewerbungen von Ärzten, denen die Atmosphäre hier zusagt. Ganz sicher werde es das Bürgerspital in fünf Jahren noch geben. „Das weiß ich, wenn ich aus dem Fenster schaue.“ Städtler lächelt. Der Parkplatz für die Besucher ist voll.

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