Das Ausmaß politischen Führungsversagens ist erschreckend. Das zumindest lässt sich mit Fug und Recht schon zu diesem Zeitpunkt feststellen, an dem ansonsten noch immer unklar ist, was aus dem Verhältnis von Großbritannien zur Europäischen Union wird. Die wirtschaftlichen Folgen des Wählerwillens beginnen sich abzuzeichnen. Seit dem Votum haben sich im Dax zeitweise bis zu 97 Milliarden Euro in Luft aufgelöst, die Kurse großer Unternehmen wie der Deutschen Bank oder der Lufthansa sind zwischendurch zweistellig eingebrochen.
Auch wenn man die leichte Erholung der Märkte nach dem ersten Schock einrechnet: Die Austrittsentscheidung der Briten hat weltweit enorme Werte vernichtet.
Damit hätten sich die politischen Führer der unterschiedlichen Lager besser auseinandergesetzt, bevor sie ihrer machtpolitischen Akrobatik so ungezwungen frönten. Zuallererst der britische Noch-Premierminister David Cameron, der das Referendum zugunsten des Machterhalts in seiner europakritischen Partei versprach. Koste es uns alle, was es wolle, Hauptsache, nicht ihn sein Amt. Das ist er nun im Herbst los.
Der prominenteste Brexit-Anführer, der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, wäre gern neuer Premierminister geworden. Also hat er den Briten erzählt, mit der Austrittsentscheidung seien alle Probleme gelöst. Ein Brexit aber sorgt weder für weniger Ausländer noch für mehr Prosperität der Wirtschaft. Im Gegenteil. So langsam beginnen immer mehr Briten zu verstehen, dass sie für dumm verkauft wurden. Wohl auch deshalb hat Johnson den letzten Rückhalt bei den Konservativen verloren und erklärt, nun doch nicht als Premier anzutreten. Aussichtsreichste Kandidatin ist nun Innenministerin Theresa May. Womöglich muss nun sie den großen Scherbenhaufen wegräumen.
Aller Voraussicht nach wird es den mit 52 Prozent beschlossenen Austritt der Briten gar nicht geben. Dazu müsste ihn nämlich jemand nach Artikel 50 des EU-Vertrags erklären. Wer das tut, steht für den Beginn des britischen Niedergangs in Geld und Geltung. Und wäre die soeben gewonnene Macht schnell wieder los. Er müsste nämlich Neuwahlen ausrufen, um das britische Parlament hinter sich zu bringen, das mehrheitlich gegen den Brexit ist. Selbst wenn die Brexiteers sich dann ein passendes Parlament wählen, kann der neue Premierminister sich darauf einstellen, seine Regierungszeit mit nichts anderem als dem Verliererthema Austritt zu verbringen, während die Wirtschaft abrutscht.
Das Führungsversagen gilt aber auch für einige EU-Spitzenpolitiker. Zum Beispiel für den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, dem nichts anderes einfällt, als wie im Rausch mehr Integration für ein Europa zu fordern, das soeben von der Mehrheit der Briten abgewählt worden ist. Wenn die Brüsseler Spitzen nicht zu nüchterner Analyse zurückfinden, wird die EU auf dem Markt des Reputationskapitals bald zur Ramschanleihe.
Was heißt Führen? Eine Haltung haben. Sagen, was ist. Probleme benennen und nach Lösungen suchen. Beim Brexit hat es daran überall gefehlt. Politiker, wie Boris Johnson, haben frustrierten Menschen versprochen, sie müssten nur abstimmen, und dann werde alles besser. Nach der Nacht der Hoffnung wachen die jetzt auf und verstehen: Auch die Revolutionäre gegen die Eliten sind nicht besser als die, die sie absetzen wollen. Für das Vertrauen von Bürgern in die Politik ist das die schlimmste Wendung, die es geben konnte.