Einblick

Nacht am Horizont

Die Türkei schafft das letzte bisschen Rechtsstaat ab. Schreitet keiner ein, erleben wir die Geburt einer Diktatur.

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Deniz Yücel hatte sich selbst bei der türkischen Polizei gemeldet. Er wollte die Missverständnisse aufklären, die aus seiner Sicht den Anschuldigungen gegen ihn wegen Terrorpropaganda zugrunde lagen. Das tut jemand, der in einem Rechtsstaat lebt. Er vertraut darauf, dass ihm der Staat mit Rechtsstaatlichkeit begegnet. Was für ein Irrtum.

Der „Welt“-Korrespondent Yücel hat die doppelte Staatsbürgerschaft. In Deutschland kann er sich als Deutscher darauf verlassen. In der Türkei kann er das als Türke nicht. Damit ist fast alles über das einstige Bald-Mitglied der EU gesagt.

Aber es gibt vielleicht doch noch etwas mehr zu sagen. Über seine Überführung in Untersuchungshaft, die in der Türkei auch keine ist. Denn welche Untersuchung legitimiert eine bis zu fünfjährige Freiheitsberaubung eines Menschen, für den bis zum Nachweis des Gegenteils die Unschuldsvermutung gilt. Gälte. Es geht ja um die Türkei, und da ist auch das anders.

"Annäherung an die EU immer schwieriger"
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: dpa
Außenminister Sigmar Gabriel Quelle: dpa
Bundesjustizminister Heiko Maas Quelle: AP
FDP-Bundesvorsitzener Christian Lindner Quelle: dpa
Grünen-Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu Quelle: dpa
Axel-Springer- Vorstandschef Mathias Döpfner Quelle: dpa
Menschenrechtsorganisation Amnesty International Quelle: REUTERS

Die Verhaftung von Deniz Yücel ist nur die gut beleuchtete Brücke, die nun von Istanbul aus nach Deutschland reicht. Sie überbrückt einen Graben, der derzeit größer kaum sein könnte. Denn Yücel ist einer von mehr als 100 inhaftierten Journalistinnen und Journalisten in der Türkei. Die Pressefreiheit gilt nichts mehr in einem Land, das einst als das Wunder versprechende Tor der EU gen Osten gehandelt wurde.

An diesen Traumszenarien hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan großen Anteil. Erdoğan hat der Türkei nach der Jahrtausendwende ein echtes Wirtschaftswunder beschert. Sein Land hat einen Riesenschub in Sachen Wachstum und Wohlstand erlebt. Das Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte sich, selbst in weniger entwickelten Regionen des Landes fanden die Menschen Arbeit.

Schon seit 2012 geht es wirtschaftlich allerdings wieder bergab. Das ist ungefähr die Zeit, zu der Erdoğan seinen Langfristputsch gegen die Demokratisierung einleitete. Dieser Prozess hat es in sich. Als Zielpunkt will Erdoğan über ein Verfassungsreferendum abstimmen lassen, das die Türkei zu einem Präsidialsystem macht, ihm selbst nahezu unbegrenzte Macht verleiht. Das ist Gift für die wirtschaftliche Entwicklung. Der Europarat sieht die Türkei bereits auf dem Weg in die Autokratie. Nach der Abstimmung am 16. April muss Erdoğan nicht mal mehr den Ausnahmezustand über sein Land verhängen. Der ist dann die undemokratische Regel.

„Er richtete alles bewusst auf seine eigene Unersetzlichkeit ein“, schrieb Sebastian Haffner 1978 über den schlimmsten Diktator der Neuzeit, „auf ein ewiges ‚Ich oder das Chaos‘.“

Auch wenn sich historische Vergleiche verbieten, verbietet uns niemand, aus der Geschichte Lehren zu ziehen und frühzeitig zu reagieren.

Das Buch Haffners heißt nicht „Anmerkungen zu Erdoğan“, aber ein Satz darin gilt besonders heute: „Macht mir den Teufel nur nicht klein!“

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