Entfremdung zwischen Berlin und Wien Österreichs Außenpolitik führt Deutschland vor

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Restriktive Flüchtlingspolitik Australiens

Kurz bringt seither die restriktive Flüchtlingspolitik Australiens als Alternative ins Gespräch: „Wer an den Außengrenzen aufgegriffen wird, muss in Hotspots auf Inseln versorgt werden und im Idealfall in sein Herkunftsland oder ein sicheres Transitland gebracht werden - so wie es Australien erfolgreich praktiziert. Außerdem müssen wir künftig noch viel mehr investieren, um die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern.“  Unter den Außenministerkollegen wachse, so behauptet Kurz, dafür die Unterstützung.

Aus der Berliner Regierung ist davon nichts zu hören, zumindest nicht öffentlich vernehmbar. Im Gegenteil: Steinmeier und Merkel kritisierten einhellig die Schließung der Balkan-Route – die vielleicht perfideste Position dieser Bundesregierung, die von jener Schließung schließlich profitiert. Die leiseste Skepsis am Erfolg des Türkei-Deals wird vom Kanzleramtsminister mit dem Hinweis abgewehrt, man brauche keinen „Plan B“.

Deutschland erscheint wie gelähmt von den Erfolgsbeschwörungen der Kanzlerin, die nicht bereit war und ist, die fatalen Fehler des Sommers 2015 beherzt zu korrigieren. Das kleine Österreich dagegen mit nicht einmal neun Millionen Einwohnern tut auf der großen europäischen Bühne, was sich die deutsche Anti-Merkel-Opposition – im Berliner Politikbetrieb ein verlorener Haufen, in der deutschen Bevölkerung aber mittlerweile eine Mehrheit – seit Monaten sehnlichst von einer deutschen Bundesregierung wünscht. Während die Österreicher das Ruder herumwarfen, ihren Kanzler austauschten und nach einem neuen Kurs suchen, liefert sich Deutschland anscheinend in altmaierisch-stoischer Ruhe dem  Kooperationswillen des Despoten von Ankara aus. Dadurch fehlt nun die Bewegungsfreiheit, um angemessen auf die rasante Entdemokratisierung in der Türkei reagieren zu können.

Für Außenpolitiker war Wien jahrhundertelang eine der wichtigsten Adressen. Als es noch die Hauptstadt einer Vielvölkergroßmacht war, pflegten die dortigen Außenpolitiker auch selbst ein gewichtiges Wörtchen mitzureden im Konzert der Mächte. Doch als überdimensionierte Hauptstadt der 1955 zwangsneutralisiertem kleinen Alpenrepublik und dritte UNO-Stadt nach New York und Genf war Wien jahrzehntelang nur noch eine ansehnliche historische Kulisse, vor der sich mächtige Nicht-Österreicher trafen. Nun tritt es wieder als eigener Akteur auf.

Als zentraler Betroffener der Migrationskrise hat Österreich im Gegensatz zu seinem großen Nachbarland demonstriert, dass es lernfähig und zum Handeln in der Lage ist. Von Deutschland kann man das nicht behaupten. Österreich ist aus historischen und kulturellen Gründen, die niemand erklären muss, eigentlich unser engster politischer Verbündeter in der EU. Es besteht eine fast hundertprozentige Übereinstimmung der Interessen. Wie sehr sich Deutschland in Europa in zentralen Zukunftsfragen, vor allem in der Einwanderungspolitik, isoliert hat, zeigt sich nicht zuletzt in der Entfremdung zwischen Berlin und Wien. Die ist nicht den Österreichern vorzuwerfen.

Ein Staat, dessen Führung den Eindruck der Handlungsunfähigkeit vermittelt, gefährdet das wichtigste Fundament seiner eigenen Stabilität: das Vertrauen der Bürger. Der berühmte Politologe Francis Fukuyama („Das Ende der Geschichte“) hat dieser Tage in einem Interview die „größte Gefahr für den Bestand unserer Demokratie“ nicht in der islamistischen Bedrohung festgemacht, sondern „im von Angst getriebenen Vertrauensverlust der Bürger in unsere eigenen Institutionen“.

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