Als der isländische Außenminister Gunnar Bragi Sveinsson Mitte Juni nach Brüssel kam, war EU-Erweiterungskommissar Štefan Füle voll des Lobes über die europäisch-isländischen Beziehungen. Doch die freundlichen Worte des Kommissars änderten nichts an der Entscheidung der neuen isländischen Regierung: In ihrer Amtszeit will sie die Beitrittsgespräche mit der EU nicht fortsetzen.
Nun dürfte es bis zum Beginn des kommenden Jahrzehnts dauern, bis sich die EU erneut vergrößert. Zwar gibt es eine politische Zusage an alle Länder des westlichen Balkans, dass sie beitreten können, wenn sie die politischen und ökonomischen Bedingungen erfüllen. Doch keines der Länder in der Warteschlange ist damit besonders weit gekommen. Ohnehin hält sich in vielen Mitgliedstaaten die Lust auf weiteren Zuwachs in Grenzen – auch weil die EU mit den Neuzugängen Bulgarien und Rumänien wenig Freude hat.
Was Manager, Intellektuelle und Geldleute den europäischen Politikern raten
„Zuerst müssen wir anders über Europa denken und reden: über unsere industriellen Kompetenzen, unsere Handwerkskultur, die nachhaltiges Wirtschaften erlaubt, über die Rolle eines starken Europas in einer globalisierten Welt, über Chancen, die es jungen Menschen bietet. Dann müssen wir die Ärmel hochkrempeln, um wieder zu wachsen: durch einen funktionierenden Binnenmarkt, mehr Mobilität, höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung, durch Infrastrukturprojekte, einen transatlantischen Wirtschaftsraum – und Strukturreformen. 500 Millionen begeisterte Europäer können die Welt verändern!“
„Wichtig ist, dass sich keine so massiven Ungleichgewichte mehr entwickeln. Die EZB hat mit ihren Operationen Zeit gekauft. Das darf aber nur eine vorübergehende Lösung sein. Die Zentralbank muss sich wieder darauf konzentrieren, was ihre Hauptaufgabe ist: Gewährleistung der Preisstabilität!“
„Europa sollte sich daran erinnern, dass es viel mehr ist als die Europäische Union oder der Euro. Damit es eine Zukunft hat, muss der Kontinent auf seine ureigenen Stärken setzen. Das heißt: mehr Vielfalt, mehr Wettbewerb der Kulturen und Ideen, mehr pragmatische Lösungen; weniger großsprecherische Visionen, politische Zwangskonvergenz und doktrinäre Einheitssuppe aus Brüssel.“
„Das Europa des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr der Nabel der Welt. Wenn wir im Konzert der Kontinente die erste Geige spielen wollen, darf sich Brüssel nicht mehr damit befassen, ob Olivenöl nur in geschlossenen Flaschen oder auch in offenen Karaffen serviert werden darf. Wir brauchen ein geeintes Europa, das seine Stärken in den Welthandel einbringt und durch kooperative Handelspolitik ein Ende der schädlichen Strafzölle und Subventionen einleitet. Wenn es gelingt, die Staatshaushalte zu sanieren und den Euro zu stärken, und wir den europäischen Gedanken weiter denken – mit gemeinsamer Wirtschafts- und Finanzpolitik – stehen uns alle Türen offen.“
„Wer die Krise Europas überwinden will, muss den Bürgern klarmachen, dass und warum es sich lohnt, alle dafür notwendigen Anstrengungen auf sich zu nehmen. Von dieser Überzeugungsarbeit ist wenig zu sehen. Kaum ein Politiker traut sich noch, die einzigartigen Vorteile dieses Zivilisationsmodells zu verteidigen. Angela Merkels Methode, die Deutschen in eine immer höhere Haftung hineinzutricksen und den südeuropäischen Ländern nichts als Hungerkuren zu verordnen, funktioniert offensichtlich nicht. Bei den Deutschen hat diese Politik das (falsche) Gefühl bestärkt, dass sie allein für Europa zahlen und nichts von Europa haben; der jungen Generation in den Schuldenländern bringt sie Massenarbeitslosigkeit und eine Zukunft ohne Hoffnungen. Die Politik der Gipfeltreffen und ständig nachjustierten Beschlüsse hinter verschlossenen Türen ist zu Ende. Wenn das Projekt Europa noch zu retten ist, dann nur durch die Mitwirkung der Bürger, nicht hinter ihrem Rücken.“
Die Kommission hat aus der übereilten Aufnahme Rumäniens und Bulgariens Konsequenzen gezogen. „Wir haben aus den letzten Beitrittsrunden eines gelernt: Rechtsstaatlichkeit, starke demokratische Strukturen und die wirksame Bekämpfung von Korruption sind unumstößliche Grundvoraussetzungen“, sagt Füle. In künftigen Verhandlungen will die EU die zentralen Verhandlungskapitel 23 und 24 zu Grundrechten, Justiz und Freiheit nun als Erste eröffnen und erst zum Schluss schließen.
Aus heutiger Sicht dürften Serbien und Montenegro die nächsten Beitrittskandidaten sein. Eine echte Chance hat Serbien aber nur, wenn es ein im April geschlossenes Abkommen mit dem Kosovo zur Normalisierung des Verhältnisses umsetzt. Hier wartet viel Arbeit, denn selbst vermeintlich Nebensächliches löst immer wieder Streit aus – derzeit zanken sich die beiden Staaten über die internationale Telefonvorwahl des Kosovo.
Der Kosovo selbst, derzeit von fünf Ländern der EU nicht als Staat anerkannt, hofft auf ein Assoziierungsabkommen mit der Gemeinschaft, eine Vorstufe zu Verhandlungen. Als „hoffnungsloser Fall“ gilt in Brüssel dagegen Mazedonien, seit 2005 Beitrittskandidat. Die Verhandlungen wurden zunächst nicht eröffnet, weil Griechenland den Namen des Landes nicht akzeptiert – in Griechenland gibt es eine gleichnamige Provinz. Die Vereinten Nationen versuchen zu vermitteln, aus den Gesprächen dringt nur wenig nach außen, was nicht auf Kompromisse hindeutet. Auch Albanien, wo es bei den Parlamentswahlen vergangene Woche zu Gewaltausbrüchen kam, bewegt sich nur im Schneckentempo in Richtung EU.
Bleibt die Türkei, deren Beitrittsgespräche seit drei Jahren auf Eis liegen. Trotz der explosiven Lage am Bosporus will die EU im Oktober ein neues Verhandlungskapitel (zur Regionalpolitik) eröffnen. Deutschland hatte nach den Attacken der türkischen Staatsmacht gegen Demonstranten zunächst ein Veto eingelegt. Nachdem aber Reformkräfte in der Türkei und mehrere europäische Außenminister Verhandlungen als einzige Hoffnung für einen Wandel in der Türkei bezeichneten, lenkte Berlin ein. Der EU-Beschluss sieht allerdings vor, dass nach dem nächsten Fortschrittsbericht der Kommission im Herbst der Ministerrat den Fortgang der Beitrittsgespräche nochmals bestätigen muss.