In der Flüchtlingskrise fordert die Türkei nach den Worten von EU-Parlamentschef Martin Schulz von den Europäern bis 2018 weitere drei Milliarden Euro. „Drei Milliarden sind in der Debatte“, sagte Schulz am Montag in Brüssel am Rande des EU-Türkei-Gipfels. Aus den Reihen der EU-Staaten kamen sofort Bedenken.
Die EU hatte bereits im vergangenen November drei Milliarden Euro zur besseren Versorgung syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge in der Türkei zugesagt. Die EU-Staaten stritten aber lange intern über die Lastenteilung. Erst Monate später gab es eine konkrete Abmachung.
Schulz sagte, das frische Geld werde von Ankara ebenfalls für die Flüchtlinge im Land gefordert. Nach Schätzungen gibt es dort 2,7 Millionen Flüchtlinge. Laut Schulz muss sich die EU erneut an die Arbeit machen, das Geld zusammenzubekommen. Das Europaparlament, das beim EU-Haushalt ein Mitspracherecht hat, sei dazu bereit.
Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen
Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverband BGA, warnt im "Tagesspiegel" vor Grenzschließungen. Rund 70 Prozent des deutschen Außenhandels würden innerhalb Europas abgewickelt. "Vor diesem Hintergrund werden sich die Kosten alleine für die internationalen Straßentransporte um circa drei Milliarden Euro verteuern."
"Durch Staus und Wartezeiten, zusätzliche Bürokratie oder zum Beispiel die Umstellung von Just-in-time-Lieferung auf deutlich teurere Lagerhaltung können sich die Kosten für die deutsche Wirtschaft schnell auf zehn Milliarden Euro pro Jahr summieren", mahnt DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben.
Der Vize-Präsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), sagte der "Rheinischen Post": „Die Schließung der deutschen Grenzen wäre ein Debakel für die Flüchtlinge, für die Wirtschaft, aber auch für Millionen Pendler und Urlauber.“
"Verstärkte Kontrollen ist was anderes, aber eine komplette Schließung ist absolut illusorisch. Und man sollte den Leuten da keine Scheinlösungen anbieten“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley im Deutschlandfunk.
"Wenn die Grenzen geschlossen würden, ist Schengen gefährdet. Das hat ebenfalls große Auswirkungen auf Deutschland, auf Arbeitsplätze in Deutschland", sagte der nordrhein-westfälische CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet.
Der österreichische Finanzminister Hans Jörg Schelling sagte am Rande der Eurogruppe, die EU habe eine Zusage für eine Finanzierung der drei Milliarden Euro gegeben. „Ich bin nicht bereit, darüber hinaus Mittel zur Verfügung zu stellen, so lang nicht die Belastungen, die Länder wie Deutschland, Schweden, Österreich tragen, auch abgegolten werden“, sagte der Wiener Minister.
Laut der Nachrichtenagentur Reuters steht in einem neuen Abkommensentwurf der EU, dass der Türkei bis Ende 2018 sechs Milliarden Euro zur Versorgung syrischer Flüchtlinge gezahlt werden sollen - also doppelt so viel wie bisher zugesagt. Außerdem ist die EU offen für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge direkt aus der Türkei, wie aus dem Entwurf hervorgeht, der Reuters am Montag in Brüssel vorlag. Das Dokument enthält den Vorschlag, dass die Türkei alle illegal Eingereisten von den griechischen Inseln zurücknehmen soll, auch solche aus Syrien. Die EU soll im Gegenzug für jeden von den Inseln in die Türkei abgeschobenen Syrer einen Syrer direkt aus der Türkei aufnehmen. Außerdem soll die EU die Visa-Pflicht für Türken im Schengenraum bis Ende Juni und damit früher als geplant lockern.
Die Türkei könnte dadurch mehr Flüchtlinge aus Griechenland zurücknehmen als bislang angekündigt. Beim Gipfel mit der EU in Brüssel legte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nach Angaben von Diplomaten am Montag „neue und ehrgeizige Ideen“ zum Thema vor. Deswegen musste der Gipfel komplett umgekrempelt und verlängert werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wehrte sich gegen Forderungen, die sogenannte Balkanroute für Flüchtlinge komplett zu schließen.
Unklar blieb zunächst allerdings, welche Gegenleistungen die Türkei für die Versorgung von noch mehr Flüchtlingen verlangen könnte. Spekulationen, nach denen es um eine weitere Milliardensumme geht, wurden zunächst nicht bestätigt. Die EU hatte der Türkei bereits im vergangenen November drei Milliarden Euro zur besseren Flüchtlingsversorgung zugesagt. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sagte dazu in Ankara: „Vier Monate sind vergangen, sie haben sie uns immer noch nicht gegeben.“
Über Vereinbarungen mit der Regierung in Ankara will die Europäische Union den unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen in Richtung Westeuropa eindämmen. Über die Türkei kommen derzeit die meisten Flüchtlinge nach Griechenland von dort aus über die Balkan-Staaten in Länder wie Deutschland.
Die EU-Chefs berieten am Nachmittag über die Vorschläge Davutoglus. Zuvor hatten sie mit dem mächtigen Mann aus Ankara gut zwei Stunden lang gesprochen. Eine weitere Sitzung mit Davutoglu war laut Diplomaten für den Abend geplant.
Orban: „Die Grenzen müssen geschlossen werden“
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben heute 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei - und es werden monatlich mehr. Bei der Gipfelvorbereitung war lediglich davon die Rede gewesen, dass die Türkei Wirtschaftsflüchtlinge zurücknehmen könnte. Am Rande des Spitzentreffens berichteten Diplomaten nun, dass möglicherweise auch Syrer in die Türkei zurückgeschickt werden könnten.
Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland
Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Viele von ihnen dürfen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl aus unterschiedlichen rechtlichen Gründen bleiben. Dabei reicht die Spannbreite vom Asylstatus bis zu einer befristen Duldung mit drohender Abschiebung.
Flüchtlinge, die in ihrem Heimatländern politisch verfolgt werden, haben laut Artikel 16 a des Grundgesetzes Anspruch auf Asyl. Hierfür gibt es allerdings zahlreiche Schranken, die Ablehnungsquote bei Asylanträgen liegt bei 98 Prozent. Schutz und Bleiberecht etwa wegen religiöser Verfolgung oder der sexuellen Orientierung wird auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Für die Praxis spielt die genaue rechtliche Grundlage allerdings keine Rolle: Anerkannte Asylberechtigte erhalten gleichermaßen eine Aufenthaltserlaubnis, die nach drei Jahren überprüft wird. Auch bei den staatlichen Unterstützungsleistungen, etwa Arbeitslosengeld II oder Kindergeld, gibt es keine Unterschiede.
Sogenannten subsidiären, also nachrangigen, Schutz erhalten Flüchtlinge, die zwar keinen Anspruch auf Asyl haben, in ihrer Heimat aber ernsthaft bedroht werden, etwa durch Bürgerkrieg oder Folter. Sie sind als „international Schutzberechtigte“ vor einer Abschiebung erst einmal sicher und erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr. Die Erlaubnis wird verlängert, wenn sich die Situation im Heimatland nicht geändert hat.
Eine Duldung erhält, wer etwa nach einem gescheiterten Asylantrag zur Ausreise verpflichtet ist, aber vorerst nicht abgeschoben werden kann. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn kein Pass vorliegt oder es keine Flugverbindung in eine Bürgerkriegsregion gibt. Fällt dieses sogenannte Hindernis weg, droht dem Betroffenen akut die Abschiebung. Zu den Hindernissen für eine Abschiebung zählt unter anderem auch der Schutz von Ehe und Familie. Beispielweise kann ein Ausländer, der hier mit einer Deutschen ein Kind hat, nicht ohne weiteres abgeschoben werden.
Wegen Grenzkontrollen, unter anderem in Mazedonien, passierten zuletzt jedoch weniger Menschen diesen Weg. In Griechenland strandeten Zehntausende Menschen. Forderungen, die sogenannte Balkanroute für Flüchtlinge komplett zu schließen, sorgten auch beim Gipfel in Brüssel für Diskussionen.
Merkel sagte dazu: „Es kann nicht sein, dass irgendetwas geschlossen wird.“ Die CDU-Politikerin lehnte damit eine Formulierung in einem Entwurf für die Abschlusserklärung des Gipfels ab. Über sie sollte die Flüchtlingsroute über den westlichen Balkan für „geschlossen“ erklärt werden.
Länder an der Balkanroute verteidigten hingegen die Formulierung. „Ich bin sehr dafür, mit klarer Sprache allen zu sagen: Wir werden alle Routen schließen, die Balkanroute auch“, sagte der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann, dessen Land zuletzt Obergrenzen für Flüchtlinge eingeführt hatte.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban erklärte: „Die Grenzen müssen geschlossen werden.“ Niemand dürfe mehr ohne Erlaubnis und Registrierung durchkommen.
Mit Spannung wurde erwartet, ob sich einige EU-Staaten bereiterklären, der Türkei eine bestimmte Zahl an Flüchtlingen abzunehmen. Ankara poche auf eine solche Kontingentlösung, hieß es von Diplomaten. Die türkische Regierung strebt auch an, dass die von der EU in Aussicht gestellte Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger schneller kommt als zunächst geplant. Bisher hatte die EU geplant, vom Oktober an eine visafreie Einreise zu gestatten.
Belastet wurden die Verhandlungen zur Flüchtlingsfrage durch das Vorgehen der türkischen Justiz gegen die größte Oppositionszeitung „Zaman“. Sowohl türkische Oppositionspolitiker als auch Staats- und Regierungschefs warnten vor einem Verrat europäischer Prinzipien. „Es kann (...) nicht sein, dass wegen der Flüchtlingsfrage andere Werte, die für Europa wichtig sind, wie Pressefreiheit, einfach über Bord geworfen werden“, sagte Luxemburgs Premier Xavier Bettel.
Die türkische Oppositionspartei HDP übte konkret Kritik an Kanzlerin Merkel. Seit es die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise gebe, schweige die deutsche Regierung zu Menschenrechtsverletzungen und zum Druck auf die Medien, sagte der Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtas.