Es könnte so schön sein. Die Sonne scheint, als die 27 Staats- und Regierungschef am Freitag zu ihrem informellen EU-Gipfel am Burgberg von Bratislava eintreffen, unten funkelt die Donau. „Ist das Dein Ferienhaus?“, fragt der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte scherzend, als er von Gastgeber Robert Fico, dem slowakischen Ministerpräsidenten, empfangen wird.
Das stilvolle Ambiente in der slowakischen Hauptstadt kann allerdings nicht über den Ernst der Lage hinwegtäuschen. Die 27 Chefs beraten, wie es mit Europa weiter gehen soll, nachdem die Briten Ende Juni mehrheitlich beschlossen haben, der Union den Rücken zu kehren. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bescheinigte Europa am Mittwoch eine „existenziellen Krise“. Sein luxemburgischer Landsmann und Nachfolger im Amt des Premierministers, Xavier Bettel, betonte bei seiner Ankunft in Bratislava: „Der, der sagt, dass in Europa alles gut läuft, braucht eine neue Brille.“ Der Brexit hat offensichtlich gemacht, worüber zuvor niemand sprechen wollte: Die Union weiß nicht mehr, wofür sie steht. Nicht nur in Großbritannien hegen Bürger Zweifel an Sinn und Zweck in der EU.
Beim Eintreffen in Bratislava betonten zahlreiche Teilnehmer, es müsse eine ehrliche Debatte geben. Dazu wird es wohl nicht kommen. Gipfel sind kaum der Ort, an denen Europas Spitzenpolitiker offen reden. Und eine Grundsatzdebatte über Europa würde ohnehin schnell in einem großen Dissens enden. Die Frage, ob Europa nun mehr oder weniger Integration braucht, um überleben zu können, spaltet die Mitgliedsstaaten tief.
Die fünf großen Baustellen der EU
Die Folgen des globalen Finanzbebens 2008 spalten Europa bis heute - wirtschaftlich und politisch. Während europäische Statistiker für Deutschland zuletzt auf 4,2 Prozent Arbeitslosigkeit kamen, waren es für Griechenland 23,5 Prozent. Das überschuldete Land will finanzielle Freiräume, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bei einem Südgipfel holte sich Athen jetzt Rückendeckung von Italien und Frankreich. Nicht nur deutsche EU-Politiker fordern strikte Sparsamkeit und reagieren gereizt. Aber auch Österreichs Bundeskanzler Christian Kern meint, der Sparkurs sei die eigentliche Ursache für die zunehmend antieuropäische Stimmung.
Der Zustrom von Hunderttausenden reibt die Gemeinschaft politisch auf. Hier verlaufen die Risse nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Ost und West. Beschlossen ist eine Verteilung von bis zu 160.000 Asylsuchenden aus den Anlandestaaten Italien und Griechenland in der EU. Erledigt waren aber bis Juli gerade einmal gut 3000 Fälle - 2213 Schutzsuchende aus Griechenland und 843 weitere aus Italien.
Die EU-Kommission drängelt, doch vor allem die Visegrad-Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen weigern sich. Stattdessen verlangen sie schärferen Grenzschutz. Das trieb nun offenbar Asselborn zu seiner Breitseite gegen die Regierung in Budapest. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der „Welt“ (Dienstag). Die Grenzzäune würden immer höher. „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge.“
Die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und zuletzt auch in Deutschland haben Lücken bei Absprachen und Austausch offenbart. Die Verunsicherung ist groß, die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit laut. Und es gibt Querverbindungen zum Flüchtlingsstreit: Vor allem nach den Anschlägen eines mutmaßlichen Afghanen in Würzburg und eines Syrers in Ansbach im Juli sehen sich die Gegner eines großzügigen Asyls bestätigt. EU-Ratspräsident Donald Tusk fordert jetzt eine lückenlose Erfassung aller, die in die EU einreisen.
Die vielfältigen Krisen schwelen seit langem, doch es war das Votum der Briten für ein Ausscheiden aus der EU vom 23. Juni, das daraus eine Existenzkrise für die Union machte. Wird der Ausstieg tatsächlich vollzogen, verliert die Gemeinschaft ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, den zweitgrößte Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat. Sie wird also kleiner und schwächer. Vor allem aber macht der Schritt EU-Gegnern allerorten Mut, auch in den Gründerstaaten Niederlande, Frankreich und Italien. Denn bei allen Sollbruchstellen scheint die EU fast gespenstisch geeint in populistischer Feindseligkeit gegen Brüssel.
Die simple These, die Eurokraten seien verantwortlich für alles Übel auf dem Kontinent, überdeckt einen Machtkampf der Institutionen: Was darf die EU-Kommission bestimmen? Wie viel Einfluss hat das Parlament? Und worüber entscheiden allein die Einzelstaaten? Über möglichst viel, meinen die Osteuropäer. Die Kommission solle sich zurückhalten, denn die „wirkliche Legitimität“ liege bei den Mitgliedsländern und Parlamenten, sagt Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka. Wie nervös die EU-Exekutive ist, zeigt der Streit um die Abschaffung der Roaming-Gebühren: Nach Murren aus Parlament und Mitgliedstaaten kassierte Kommissionspräsident Juncker flugs den Plan, die Streichung der Zusatzgebühren für Handytelefonate im EU-Ausland auf 90 Tage zu befristen.
Bundeskanzlerin Merkel gab in dem ihr eigenen Pragmatismus die Marschroute vor. Der Gipfel soll eine so genannte Bratislava-Agenda aufstellen mit konkreten Projekten, die in den kommenden Monaten abgearbeitet werden soll. Bis zum Treffen im März 2017, bei dem die Union ihren 60. Geburtstag feiert, sollen erste Fortschritte erreicht werden. Ein Gipfel könne nicht die Probleme Europas lösen, sagte Merkel am Freitag in Bratislava - und senkte damit die Erwartungen an das Treffen schon vor Beginn der Arbeitssitzungen.
Konkret wollen sich die Staats- und Regierungschefs mit Grenzsicherung, Terrorismusbekämpfung und dem digitalen Binnenmarkt befassen. Diese drei Themen zählen zu den wenigen, die mehrheitsfähig sind unter den 27 Mitgliedsstaaten. Die EU-Kommission hatte weitere 26 potenzielle Politikgebiete untersucht, war aber zum Ergebnis gekommen, dass sie nicht konsensfähig sind.
Politik der kleinen Schritte
Europa folgt nun der Merkelschen Politik der kleinen Schritte. Sichtbare Fortschritte in den drei Bereichen, so die Logik, soll die Menschen davon überzeugen, dass Europa einen Mehrwert hat. Die Frage bleibt, ob diese Schritte ausreichen, um dem Projekt Europa wieder Dynamik zu verleihen. EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte in seinem Brandbrief an die Chefs darauf hingewiesen, dass Bürger vor allem Antworten auf die großen Herausforderungen wie Migration und Globalisierung erwarten. „Die Menschen in Europa wollen wissen, ob die politischen Eliten in der Lage sind, wieder die Kontrolle über Ereignisse und Prozesse erlangen, die die Menschen überrollen, desorientieren und manchmal verschrecken.“
Europa muss eine Antwort auf die Globalisierung in all ihren Facetten geben, denn in Großbritannien waren es nicht zuletzt Globalisierungsverlierer, die für den Brexit stimmten. Europas Antworten auf die Globalisierung waren bisher kleinteilig und wirkten oft hilflos. So hat die EU-Kommission gerade erst eine Task-Force eingerichtet, weil Caterpillar ein Werk in Belgien schließt. Solche Gesten helfen wenig, wenn Europa nicht an seiner Wettbewerbsfähigkeit arbeitet.
Über Wirtschaft wird in Bratislava kaum gesprochen - weil keine Einheit herrscht, mit welchen Rezepten die EU vorangehen soll. Eine Allianz der Südländer, die sich jüngst in Athen getroffen hat, will ein Ende der Austerität. Doch Streit zu diesem Thema soll vermieden werden.
Auch das große Thema, wie Europa sich zum Freihandel positioniert, wird ausgespart. Zwölf EU-Mitgliedsstaaten, darunter Italien, Spanien und Schweden haben sich in einem Brief gerade explizit für das umstrittenen Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) ausgesprochen. Doch in Frankreich will die Regierung davon nichts mehr wissen, in Deutschland finden am Samstag Großdemonstrationen statt.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte bei seinem Amtsantritt 2014 versprochen, dass Europa sich nicht mehr in Kleines einmischen werde, sondern das Große mit großen Würfen regeln werde. Damit hat er Erwartungen geweckt - die Europa bisher bei weitem nicht erfüllt hat.