EU-Gipfel "Wer sagt, dass in Europa alles gut läuft, braucht eine Brille"

Ohne Großbritannien treffen sich die 27 EU-Mitgliedsstaaten in Bratislava, um die Europäische Union aus der Krise zu führen. Die Union will sich auf konsensfähige Projekte konzentrieren - doch das kann die tiefen Konflikte in ihrem Inneren nicht kaschieren.

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Victor Orban, Angela Merkel und Christian Kern Quelle: REUTERS

Es könnte so schön sein. Die Sonne scheint, als die 27 Staats- und Regierungschef am Freitag zu ihrem informellen EU-Gipfel am Burgberg von Bratislava eintreffen, unten funkelt die Donau. „Ist das Dein Ferienhaus?“, fragt der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte scherzend, als er von Gastgeber Robert Fico, dem slowakischen Ministerpräsidenten, empfangen wird.

Das stilvolle Ambiente in der slowakischen Hauptstadt kann allerdings nicht über den Ernst der Lage hinwegtäuschen. Die 27 Chefs beraten, wie es mit Europa weiter gehen soll, nachdem die Briten Ende Juni mehrheitlich beschlossen haben, der Union den Rücken zu kehren. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bescheinigte Europa am Mittwoch eine „existenziellen Krise“. Sein luxemburgischer Landsmann und Nachfolger im Amt des Premierministers, Xavier Bettel, betonte bei seiner Ankunft in Bratislava: „Der, der sagt, dass in Europa alles gut läuft, braucht eine neue Brille.“ Der Brexit hat offensichtlich gemacht, worüber zuvor niemand sprechen wollte: Die Union weiß nicht mehr, wofür sie steht. Nicht nur in Großbritannien hegen Bürger Zweifel an Sinn und Zweck in der EU.

Beim Eintreffen in Bratislava betonten zahlreiche Teilnehmer, es müsse eine ehrliche Debatte geben. Dazu wird es wohl nicht kommen. Gipfel sind kaum der Ort, an denen Europas Spitzenpolitiker offen reden. Und eine Grundsatzdebatte über Europa würde ohnehin schnell in einem großen Dissens enden. Die Frage, ob Europa nun mehr oder weniger Integration braucht, um überleben zu können, spaltet die Mitgliedsstaaten tief.

Die fünf großen Baustellen der EU

Bundeskanzlerin Merkel gab in dem ihr eigenen Pragmatismus die Marschroute vor. Der Gipfel soll eine so genannte Bratislava-Agenda aufstellen mit konkreten Projekten, die in den kommenden Monaten abgearbeitet werden soll. Bis zum Treffen im März 2017, bei dem die Union ihren 60. Geburtstag feiert, sollen erste Fortschritte erreicht werden. Ein Gipfel könne nicht die Probleme Europas lösen, sagte Merkel am Freitag in Bratislava - und senkte damit die Erwartungen an das Treffen schon vor Beginn der Arbeitssitzungen.

Konkret wollen sich die Staats- und Regierungschefs mit Grenzsicherung, Terrorismusbekämpfung und dem digitalen Binnenmarkt befassen. Diese drei Themen zählen zu den wenigen, die mehrheitsfähig sind unter den 27 Mitgliedsstaaten. Die EU-Kommission hatte weitere 26 potenzielle Politikgebiete untersucht, war aber zum Ergebnis gekommen, dass sie nicht konsensfähig sind.

Politik der kleinen Schritte

Europa folgt nun der Merkelschen Politik der kleinen Schritte. Sichtbare Fortschritte in den drei Bereichen, so die Logik, soll die Menschen davon überzeugen, dass Europa einen Mehrwert hat. Die Frage bleibt, ob diese Schritte ausreichen, um dem Projekt Europa wieder Dynamik zu verleihen. EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte in seinem Brandbrief an die Chefs darauf hingewiesen, dass Bürger vor allem Antworten auf die großen Herausforderungen wie Migration und Globalisierung erwarten. „Die Menschen in Europa wollen wissen, ob die politischen Eliten in der Lage sind, wieder die Kontrolle über Ereignisse und Prozesse erlangen, die die Menschen überrollen, desorientieren und manchmal verschrecken.“

Europa muss eine Antwort auf die Globalisierung in all ihren Facetten geben, denn in Großbritannien waren es nicht zuletzt Globalisierungsverlierer, die für den Brexit stimmten. Europas Antworten auf die Globalisierung waren bisher kleinteilig und wirkten oft hilflos. So hat die EU-Kommission gerade erst eine Task-Force eingerichtet, weil Caterpillar ein Werk in Belgien schließt. Solche Gesten helfen wenig, wenn Europa nicht an seiner Wettbewerbsfähigkeit arbeitet. 

Über Wirtschaft wird in Bratislava kaum gesprochen - weil keine Einheit herrscht, mit welchen Rezepten die EU vorangehen soll. Eine Allianz der Südländer, die sich jüngst in Athen getroffen hat, will ein Ende der Austerität. Doch Streit zu diesem Thema soll vermieden werden.

Auch das große Thema, wie Europa sich zum Freihandel positioniert, wird ausgespart. Zwölf EU-Mitgliedsstaaten, darunter Italien, Spanien und Schweden haben sich in einem Brief gerade explizit für das umstrittenen Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) ausgesprochen. Doch in Frankreich will die Regierung davon nichts mehr wissen, in Deutschland finden am Samstag Großdemonstrationen statt. 

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte bei seinem Amtsantritt 2014 versprochen, dass Europa sich nicht mehr in Kleines einmischen werde, sondern das Große mit großen Würfen regeln werde. Damit hat er Erwartungen geweckt - die Europa bisher bei weitem nicht erfüllt hat.

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