Europa 2017 Wir müssen den Westen vor sich selbst retten

Es geht im kommenden Jahr nicht nur um die Bewahrung der EU. Es geht um den gesamten Westen. Soll 2017 nicht zum Horror-Jahr werden, müssen vor allem vier Dinge geschehen.

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Shopping-Boom und Immobilien-Schock
Brexit-Demonstranten in Großbritannien Quelle: REUTERS
Britische Pfundnoten Quelle: dpa
In Großbritannien beliebt: der Brotaufstrich Marmite. Quelle: dpa
Großbritannien-Fan Quelle: AP
Der britische Finanzminister Philip Hammond und die Premierministerin Theresa May Quelle: REUTERS
British-Airways-Maschine Quelle: AP
Touristen in London Quelle: dpa

2016 begann damit, dass viele vor einem Scheitern der Europäischen Union warnten. Dann kamen neue Terroranschläge, das Brexit-Referendum, der Wahlsieg Donald Trumps und Putins Triumph und das humanitäre Desaster in Syrien. Am Ende dieses Jahres ist klar: Inzwischen geht es um mehr als ‘nur’ die Zukunft Europas. Es geht um den Westen insgesamt.

Zur Person

Der Westen – das steht natürlich für griechische Philosophie, römisches Recht, 2000 Jahre jüdisch-christliche Kultur, und darauf aufbauend vor allem: die Aufklärung und damit Menschenrechte, Demokratie und Gewaltenteilung: All das, was unsere offene Gesellschaft ausmacht, was 1989 den ideologischen Wettstreit gewonnen zu haben schien und sich zu einem weltweiten Siegeszug anschickte. Das ist zwar real keine 30 Jahre her, aber gefühlt könnte es auch ein Jahrhundert sein.

Wer aber bedroht nun den Westen? – Da sind zunächst die äußeren Herausforderungen, die sich über die letzten zweieinhalb Jahrzehnte langsam aufgebaut haben: islamistischer Fundamentalismus (nicht nur Terror), autoritärer Kapitalismus (in China), und ein immer aggressiveres Russland, das tief in unsere Gesellschaften hineinreicht.

Was in den letzten Jahren aber dazukam, ist das Gefühl einer inneren Aushöhlung des Westens, die mit dem Wort Populismus nur unzureichend beschrieben werden kann. Denn hier geht es nicht nur um eine Vertrauenskrise der politischen und wirtschaftlichen Eliten und den Erfolg extremistischer Parteien. Hier geht es auch um eine strukturelle Wirtschaftskrise, den Wandel politischer Prozesse durch Soziale Medien, und natürlich die drohende innere Schwächung der beiden Organisationen, die den Westen am stärksten verkörpern: der EU (durch Brexit und Nationalismus), und der NATO (durch Trump und eine Tendenz zum Appeasement).

Was könnte 2017 also passieren? – Zwar wird die NATO im nächsten Jahr genauso wenig verschwinden wie die EU 2016. Die Mitgliedstaaten der EU werden auch am Ende des nächsten Jahres Demokratien sein. Dennoch könnte es sein, dass die spürbaren Veränderungen für Europa 2017 noch weitaus dramatischer ausfallen als die im vergangenen Jahr. Wahlen stehen an in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland. Im Moment, glaubt man den Umfragen, scheint es unwahrscheinlich, dass Geert Wilders oder Marine Le Pen an die Macht kommen oder Angela Merkel abgewählt wird.

Aber Umfragen lagen auch im Falle des Brexit-Referendums und der US-Präsidentenwahl daneben. Und unvorhersehbare Ereignisse wie große Terroranschläge, oder russischer Einfluss, können Wahrscheinlichkeiten ins Wanken bringen. Der größte anzunehmende Unfall in dieser Reihe wäre wahrscheinlich ein Sieg Marine Le Pens in den französischen Präsidentenwahlen – möglicherweise das Ende des Euro und auf mittlere Sicht auch das Ende der EU. Auch eine EU mit François Fillon und ohne Angela Merkel wäre wesentlich geschwächt, nicht zuletzt gegenüber Putins Russland. Dabei ist die These, Angela Merkel sei nun die Führungsfigur der Freien Welt, leicht übertrieben. Aber dass alle verfügbaren Alternativen im Kanzleramt der Zukunft des Westens abträglich wären – daran sollte eigentlich kein Zweifel bestehen.

Die größte Unbekannte steckt aber in der zukünftigen Außenpolitik Donald Trumps: Deren Inhalte und Prioritäten sind noch nicht mit Sicherheit erkennbar. Fest steht, dass für Trump alle Beziehungen der USA zu anderen Nationen ‘transactional’ sein müssen, sich also in konkretem Nutzen für Amerika auszahlen. Trump könnte außerdem der erste US-Präsident sein, dem die grundlegenden Werte des Westens egal sind. Fest steht aber auch, dass Trumps Regierung, nach allen bisherigen Personalentscheidungen, von höchst gegensätzlichen Personen und Tendenzen geprägt sein wird, und daher möglicherweise von starken inneren Konflikten.

Die fünf großen Baustellen der EU

Das größte unmittelbare Risiko für Europa steckt in einem großen Deal Trumps mit Putin, auf Kosten vor allem der Ukraine und der östlichen Mitglieder von EU und NATO. Viele Beobachter weisen auf den jeweiligen Neuanfang hin, den schon George W. Bush und Barack Obama mit Putin in Angriff nahmen – und der dann in kurzer Zeit von Letzterem zunichte gemacht wurde. Allerdings könnte die Sache dieses Mal anders ausgehen: Sowohl Bush als auch Obama waren letzten Endes von Werten geleitet und sahen den Westen als erhaltenswert an – das könnte bei Trump anders sein. Jedenfalls hätte ein ‘neues Jalta’ unabsehbare Folgen für die östliche Nachbarschaft der EU, in der sich Korruption und Autokratie auf Dauer installieren würden, und für die EU und NATO, in denen sich der Osten jeweils vollkommen allein gelassen fühlen würde. Außerdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass Putin bei einem solchen Erfolg seine direkten Eingriffe in die Politik der Demokratien Europas plötzlich unterlassen würde.

Allerdings werden die USA nicht vom Präsidenten allein regiert. Und gerade in den Beziehungen zu Russland stehen einem neuen Jalta nicht nur etliche seiner Kabinettsmitglieder und Berater entgegen – z.B. der designierte Verteidigungsminister Mattis – sondern auch eine große Mehrheit aus Republikanern und Demokraten in beiden Häusern des Kongresses.

Wie kann der Westen also zumindest ansatzweise zu neuer Stärke finden? Was muss passieren, damit 2017 nicht zu dem Horror-Jahr wird, das viele befürchten?

Vier Aufgaben für die EU

Hierzu vier  Punkte:

Die EU muss zu einem Minimalkonsens zurückfinden, der, wenn nicht von allen, dann doch von einer großen Mehrheit der Mitgliedstaaten getragen wird. Das beinhaltet Rechtsstaatlichkeit, also die Betonung von ‘Checks and balances’: unabhängiger Justiz, Medien etc. Das sollte z.B. im Falle der polnischen Regierung deutlicher als bisher betont werden. Gleichzeitig ist aber wichtig, dass man sich bei dem Konflikt um Flüchtlinge und Migration gegenseitig zuhört, anstatt der jeweils anderen Seite das Europäertum abzusprechen. Noch wichtiger ist aber, dass die EU und ihre Institutionen sich viel stärker als bisher in den Augen der Bürger mit dem Thema Sicherheit verbinden. Beim besseren Schutz der Außengrenzen sind im vergangenen Jahr Fortschritte erzielt worden – das muss auch gesagt werden. Die Kooperation von Polizei und Geheimdiensten muss ein essentieller Teil einer neu aufgestellten EU-Anti-Terror-Politik werden. Schließlich – und genauso wichtig: Die EU muss, möglicherweise in kleineren Gruppen von Ländern, eine echte militärische Interventionskapazität entwickeln.

Welche politischen Momente den Deutschen in Erinnerung bleiben
Jahreswechsel 2015-2016-in-Köln Quelle: dpa
Jan-Böhmermann Quelle: dpa
Joachim-Gauck Quelle: dpa
Streit zwischen Unionsschwestern„Perfekte Merkel“: Das Jahr war geprägt vom erbitterten Flüchtlingsstreit zwischen CDU und CSU. Kaum eine Woche verging, dass Horst Seehofer nicht scharf gegen Merkel schoss. Die Klausur der Unionsspitze in Potsdam im Juni sollte Frieden bringen. Mit der Brexit-Entscheidung der Briten im Nacken und bei lähmender Sommerhitze wollten die Kanzlerin und der CSU-Chef sich annähern. Die Schattenseite: Seehofer wollte sich nicht auf Merkel als gemeinsame Kanzlerkandidatin festlegen. Stattdessen berichtete er von einer Merkel-Figur, die in seiner Modelleisenbahn-Anlage vorkomme. Seine bisherige sei zu groß, entspreche nicht dem Maßstab. Jetzt habe er eine neue - „eine maßstabsgetreue und perfekte Angela Merkel“. Versteht sich von selbst, dass die neue Merkel etwas kleiner ist. Quelle: REUTERS
Beate-Zschäpe Quelle: dpa
Einheitsfeier-in -Dresden Quelle: REUTERS
Angela-Merkel Quelle: dpa

Die beginnenden Brexit-Verhandlungen sollten so konstruktiv wie möglich geführt werden. Das Endergebnis wird wahrscheinlich eher einem Freihandelsabkommen (wie z.B. CETA mit Kanada) ähneln als einer weiteren Mitgliedschaft der Briten im Binnenmarkt. Das sollte aber begleitet werden von einer fest institutionalisierten Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik und besonders der Terrorbekämpfung. Auf jeden Fall verhindert werden muss ein ‘dirty Brexit’  - also ein Austritt ohne Abkommen, unter Verletzung internationalen Rechts.

Gegenüber der neuen US-Administration, die ja nicht nur aus Donald Trump besteht, sollten die Europäer zwei Dinge kombinieren: Eine demonstrative Erhöhung der Verteidigungshaushalte – nur 5 der 28 NATO-Mitglieder erfüllen das selbst gesteckte Ziel von Ausgaben in Höhe von 2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts. Und in den Wirtschaftsbeziehungen müssen die Europäer selbstbewusst betonen, wie wichtig der europäische Markt für US-Exporte ist und wie viele Arbeitsplätze europäische Investitionen in den USA schaffen. Vor allem aber: Auch das Amerika Donald Trumps braucht Bündnispartner, wenn es wieder ‘great’ werden soll.

Um schließlich mit dem wachsenden Populismus zurecht zu kommen, ist ein Bündnis aller ‘Etablierten’ gegen die Demagogen nicht immer das beste Mittel, weil man ihnen dadurch erst eine Aufteilung in Eliten und ‘das Volk’ erleichtert. Es gibt doch weiter Unterschiede zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts: in der Wirtschaft, bei der Sicherheit und in Fragen kultureller Identität und ‘political correctness’. In einigen EU-Mitgliedsländern sind Populisten schon an der Macht, andere werden folgen. Sie werden so oder so ihre Wähler irgendwann enttäuschen: entweder indem sie über die Jahre eine differenziertere Politik machen als versprochen, oder indem sie scheitern.

Das vor uns liegende Jahr kann also wirklich über die Zukunft des Westens entscheiden. Er ist schwächer als je zuvor in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten. Aber wenn Europäer und Amerikaner 2017 ein paar Dinge richtig machen, dann kann die Katastrophe noch verhindert werden. Denn wie eine Welt ohne einen starken Westen aussieht, das kann man derzeit in Aleppo beobachten.

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