Der Manager wurde prompt von Kollegen aus der Autobranche beschimpft, von VW-Angestellten sogar persönlich bedroht. In seiner Not wandte er sich an Tajanis Straßburger Büro und bat einen Mitarbeiter des Abgeordneten, seinen Namen, den Firmennamen und die Telefonnummer bei Twitter zu löschen. Der damalige Vizepräsident des Europaparlaments reagierte mit einer dreisten Gegenforderung: Der Autozulieferer solle eine Pressemitteilung veröffentlichen, die Berichte der WirtschaftsWoche über Tajanis Rolle im Abgasskandal seien falsch gewesen. Mehrfach erhob Tajani diese Forderung, jedes Mal lehnte der Manager das unmoralische Angebot ab.
Die fünf großen Baustellen der EU
Die Folgen des globalen Finanzbebens 2008 spalten Europa bis heute - wirtschaftlich und politisch. Während europäische Statistiker für Deutschland zuletzt auf 4,2 Prozent Arbeitslosigkeit kamen, waren es für Griechenland 23,5 Prozent. Das überschuldete Land will finanzielle Freiräume, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bei einem Südgipfel holte sich Athen jetzt Rückendeckung von Italien und Frankreich. Nicht nur deutsche EU-Politiker fordern strikte Sparsamkeit und reagieren gereizt. Aber auch Österreichs Bundeskanzler Christian Kern meint, der Sparkurs sei die eigentliche Ursache für die zunehmend antieuropäische Stimmung.
Der Zustrom von Hunderttausenden reibt die Gemeinschaft politisch auf. Hier verlaufen die Risse nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Ost und West. Beschlossen ist eine Verteilung von bis zu 160.000 Asylsuchenden aus den Anlandestaaten Italien und Griechenland in der EU. Erledigt waren aber bis Juli gerade einmal gut 3000 Fälle - 2213 Schutzsuchende aus Griechenland und 843 weitere aus Italien.
Die EU-Kommission drängelt, doch vor allem die Visegrad-Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen weigern sich. Stattdessen verlangen sie schärferen Grenzschutz. Das trieb nun offenbar Asselborn zu seiner Breitseite gegen die Regierung in Budapest. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der „Welt“ (Dienstag). Die Grenzzäune würden immer höher. „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge.“
Die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und zuletzt auch in Deutschland haben Lücken bei Absprachen und Austausch offenbart. Die Verunsicherung ist groß, die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit laut. Und es gibt Querverbindungen zum Flüchtlingsstreit: Vor allem nach den Anschlägen eines mutmaßlichen Afghanen in Würzburg und eines Syrers in Ansbach im Juli sehen sich die Gegner eines großzügigen Asyls bestätigt. EU-Ratspräsident Donald Tusk fordert jetzt eine lückenlose Erfassung aller, die in die EU einreisen.
Die vielfältigen Krisen schwelen seit langem, doch es war das Votum der Briten für ein Ausscheiden aus der EU vom 23. Juni, das daraus eine Existenzkrise für die Union machte. Wird der Ausstieg tatsächlich vollzogen, verliert die Gemeinschaft ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, den zweitgrößte Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat. Sie wird also kleiner und schwächer. Vor allem aber macht der Schritt EU-Gegnern allerorten Mut, auch in den Gründerstaaten Niederlande, Frankreich und Italien. Denn bei allen Sollbruchstellen scheint die EU fast gespenstisch geeint in populistischer Feindseligkeit gegen Brüssel.
Die simple These, die Eurokraten seien verantwortlich für alles Übel auf dem Kontinent, überdeckt einen Machtkampf der Institutionen: Was darf die EU-Kommission bestimmen? Wie viel Einfluss hat das Parlament? Und worüber entscheiden allein die Einzelstaaten? Über möglichst viel, meinen die Osteuropäer. Die Kommission solle sich zurückhalten, denn die „wirkliche Legitimität“ liege bei den Mitgliedsländern und Parlamenten, sagt Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka. Wie nervös die EU-Exekutive ist, zeigt der Streit um die Abschaffung der Roaming-Gebühren: Nach Murren aus Parlament und Mitgliedstaaten kassierte Kommissionspräsident Juncker flugs den Plan, die Streichung der Zusatzgebühren für Handytelefonate im EU-Ausland auf 90 Tage zu befristen.
Und so ist Tajanis Twitter-Attacke auf den Whistleblower, der sich vertrauensvoll an den damaligen Industriekommissar gewandt hatte, bis heute online. „Veröffentlicht ein EU-Parlamentarier ein vertraulich übersandtes Schriftstück mit Name und Telefonnummer eines Dritten ohne Einverständnis dieser Person, ist das ein Verstoß gegen europäisches Datenschutzrecht“, sagt Rolf Schwartmann, Rechtsprofessor an der Technischen Hochschule Köln. Und fügt hinzu: „Wie kann ein Politiker einen Informanten öffentlich machen, der ihn auf Missstände hinweist?“
Chaotisch als Kommissar
Tajani wollte sich auf Anfrage zu den neuen Vorwürfen gegen ihn nicht äußern. Fraktionschef Weber soll sich einen anderen EVP-Kandidaten gewünscht haben, heißt es in Brüssel. Qua Amt muss er Tajani nun aber verteidigen. Weber warnt vor „Vorverurteilungen“ der Kandidaten, die bislang vor allem aus Deutschland kämen. Aber selbst EVP-Mitgliedern bangt vor dessen Kandidatur. Wegen Tajanis Bande zu Berlusconi, dem er als Sprecher diente, und seiner Verstrickung in den VW-Skandal. Aber auch wegen dessen Bilanz als EU-Kommissar, zuständig erst für Verkehr, danach für die Belange der Industrie.
Da produzierte Tajani nämlich vor allem heiße Luft. Sein Aktionsplan für den Stahlsektor verpuffte genauso wie eine Initiative für mehr Tourismus. Unternehmensvertreter erinnern, wie er oft in letzter Minute Treffen schwänzte, sogar mit Daimler-Boss Dieter Zetsche. Zählen konnten auf Tajani nur Landsleute, sie bekamen meist rasch einen Termin.
So auch jener italienische Automanager, auf den Tajani am 4. Juli 2012 um elf Uhr in einem Straßburger Büro der EU-Kommission traf. Thema: Manipulationen von Autoherstellern bei Emissionsmessungen. So steht es in einem Briefing, das der Manager am Tag zuvor Tajanis Büro zuschickte. „Im Bereich der Fahrzeugemissionen“, hieß es warnend in dem Schreiben, gebe es die Praxis des „Cycle Beating“ (den Zulassungstest austricksen). Und weiter: „Moderne Technologie bietet viele Wege, um Zulassungstests zu manipulieren. Etwa durch Verwendung spezieller Software, die den Start eines Zulassungstests erkennt.“ Nur dann funktionierten die Autos korrekt. Später auf der Straße jedoch funktioniere die Technik nur noch eingeschränkt. Die Kommission müsse ein klares Signal senden, dass solche Tricksereien nicht toleriert würden.
Der Brief und das anschließende Gespräch in Straßburg waren die weltweit frühesten Hinweise auf die Manipulationsmethode, die sich VW zunutze gemacht hat und die später zum VW-Skandal führen sollte.
Nachdem die WirtschaftsWoche dies enthüllt hatte, twitterte Tajani in Trump-Manier los. „wiwo lügt schon wieder“, schrieb er und fügte als Beleg besagtes Schreiben des italienischen Informanten bei. Dieses beziehe sich „auf Reifendrucksensoren, nicht VW“.