"Der Premier denkt, dass die EU quasi die Pflicht habe, Ungarn jeden finanziellen Betrag zur Verfügung zu stellen. Er reduziert die Mitgliedschaft des Landes in der EU auf den Erhalt von Milliarden von Euro – ohne Rücksicht auf die Einhaltung europäischer Grundrechte und gemeinsamer Werte", bemängelt Inotai.
Überraschend ist das nicht. Schließlich ist Ungarn wie kaum eine zweite Nation von den Fördergeldern der Brüsseler Staatengemeinschaft abhängig. Das Land ist einer der größten Nettoempfänger. Ohne das Geld läuft in Ungarn fast gar nichts. "Die EU-Förderprogramme sind fast ausschließlich die Hauptfinanzierungsquelle", sagt Erika Anders-Clever, Repräsentantin bei "Germany Trade & Invest" in Budapest, der Bundesgesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing. Würden diese Gelder wegfallen, wären zahlreiche Infrastrukturprojekte in Gefahr.
Ungarn kann sich kaum noch finanzieren
"Gebaut wird inzwischen nur noch, wenn eine EU-Finanzierung hinter einem Vorhaben steckt", sagt Anders-Clever. Denn Auftragnehmer wie Anleger wissen: Beim Staat gibt es nicht mehr viel zu holen. Wie lange die Regierung noch offene Rechnungen zahlen kann, ist fraglich. Fakt ist: An den Märkten kann sich Ungarn kaum mehr finanzieren, nachdem alle der drei großen Ratingagenturen ungarische Staatsanleihen reihenweise abgewertet haben.
Das ist Viktor Orbán
Viktor Orbán, 1963 geboren, wuchs in bescheidenen Verhältnissen in einem Dorf bei Szekesfehervar - 70 Kilometer südwestlich von Budapest - auf. Im ländlichen Umfeld seiner Kindheit galt er als schwer erziehbar.
Als Jurastudent in der Hauptstadt Budapest rebellierte Orbán mit Gleichgesinnten gegen den geistlosen Obrigkeitsstaat im späten Kommunismus. Der Fidesz, den er mitbegründete, war die erste unabhängige Jugendorganisation dieser Zeit.
1998 übernahm Orbán erstmals die Regierungsgeschäfte. Mit 35 Jahren war er damals der jüngste Ministerpräsident der ungarischen Geschichte.
Als Orbán 2002 überraschend die Wahl und damit die Regierungsmacht verlor, wollte er sich damit nicht abfinden. Er ließ seine Anhänger aufmarschieren und reklamierte auf "Wahlbetrug". Die regierende Linke setzte der Oppositionsführer immer wieder mit Straßenkundgebungen und Volksabstimmungen unter Druck.
Die Wahlen im Frühjahr 2010 brachten Orbán die langersehnte Rückkehr an die Macht, noch dazu mit der verfassungsrelevanten Zweidrittelmehrheit für seine Fidesz-Fraktion.
Nach seiner Rückkehr sprach Orbán umgehend von einer "Revolution der Wahlkabinen" und von der Ankunft eines neuen "Systems der nationalen Zusammenarbeit".
Das bedeutete in der Praxis die Aushöhlung demokratischer Institutionen. Kritiker zufolge ordnet Orbán seine ganze Politik seinen Machtbedürfnissen unter. So würden auch die kürzlich verabschiedeten Verfassungsänderungen vor allem dazu dienen, dass Orbán noch mehr schalten und walten kann, wie er will.
Für die nächsten 15 bis 20 Jahre, so erklärte Orbán vor Partei-Intellektuellen, müsse "ein einziges politisches Kraftfeld die Geschicke der Nation bestimmen".
Auch der Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt ist für Ungarn lebensnotwendig. Rund drei Viertel aller Exporte und mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts werden auf EU-Märkten abgesetzt. Dennoch verkennt der ungarische Ministerpräsident die Vorteile und behauptet, für sein Land gebe es auch "ein Leben außerhalb der EU".
Wirtschaft spielt nur eine Nebenrolle
„Die Vorteile der internationalen Einbettung der Wirtschaft spielen in Ungarn seit drei Jahren eine zweitrangige Rolle. Das Hauptaugenmerk der Regierung liegt darauf, einheimische und der Politik nahestehende Geschäftsleute (oft bei Missachtung der EU-Wettbewerbsregeln) ins Spiel zu bringen und dadurch ihre politische Macht für die nächsten 20 Jahre zu zementieren – egal, zu welchem Preis.“
Das scheint durchaus zu gelingen. Die Proteste in Ungarn halten sich in Grenzen. Außer ein paar wenigen Studenten gibt es kaum hörbare kritische Stimmen am Kurs der Regierung. Die Gründe: Die Opposition ist zerstritten, die Medien sind von der Regierung auf Linie getrimmt – und die Bürger durch falsche Fakten geblendet.