Deutschland und Ungarn sind sich einig: Eine EU-weite Frauenquote soll es nicht geben. Gemeinsam mit sieben weiteren Ländern wollen sie den Vorschlag aus Brüssel ablehnen, 40 Prozent der Führungsposten in börsennotierten Unternehmen mit Frauen zu besetzen. Doch damit ist es auch genug der Gemeinsamkeiten. Nach Nazi-Vergleichen und den umstrittenen Verfassungsänderungen war die Geduld mit der national-konservativen Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán bereits im Mai dahin. "Es wäre allerhöchste Zeit, dass man endlich Klartext mit Orbán redet", sagte Axel Schäfer, Vizechef der SPD-Bundestagsfraktion. "Er belastet zunehmend das traditionell gute Verhältnis zwischen Deutschland und Ungarn", so CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz gegenüber Spiegel Online.
Doch Orbán denkt nicht daran, sich und seine Politik der Provokation zu ändern. Im Gegenteil: Zunächst bezichtigte seine Regierung EU-Kommissarin Viviana Reding der Lüge. "Sie lügt entweder aus grenzenloser Ignoranz oder mit politischer Absicht", erklärte das Justizministerium, nachdem Reding der Orbán-Administration vorwarf, die Justiz destabilisiert zu haben. Anschließend schoss Budapest gegen den Internationalen Währungsfonds, der Ungarn gemeinsam mit der EU mit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise mit Krediten über 20 Milliarden Euro auf der Klemme half. Die nationale Notenbank forderte den IWF, sein Büro in Budapest zu schließen. Eine ständige Vertretung der Washingtoner Organisation sei "unbegründet", so der Chef der Nationalbank György Matolcsy.
Die umstrittenen Verfassungsänderungen
Die Höchstrichter dürfen Verfassungsänderungen und -zusätze künftig nur mehr noch verfahrensrechtlich, nicht mehr inhaltlich prüfen. Darüber hinaus ist es ihnen verwehrt, sich auf die eigene Spruchpraxis aus der Zeit vor Inkrafttreten der derzeitigen Verfassung im Januar 2012 zu berufen.
Die vom Ministerpräsidenten ernannte Leiterin des Nationalen Justizamtes bekommt eine Vollmacht, um in bestimmten Fällen die Gerichte zuzuweisen.
Es soll die Möglichkeit geben, dass Wahlwerbung in privaten Medien verboten werden kann.
Wenn Obdachlose auf der Straße übernachten, können sie dafür ins Gefängnis kommen.
Die Regierungsmehrheit im Parlament erhält die Möglichkeit willkürlich über die Zuerkennung des Kirchenstatus zu entscheiden.
Der bisher von der Verfassung gewährte Schutz der Familie soll auf Mann und Frau, die miteinander verheiratet sind und Kinder großziehen, eingeengt werden.
Die Finanzautonomie der Universitäten wird durch von der Regierung eingesetzte Wirtschaftsdirektoren („Kanzler“) eingeengt.
Es gibt per Gesetz die Möglichkeit, Universitätsabgänger, die ohne Studiengebühren studiert haben, auf das Bleiben in Ungarn zu verpflichten.
Das Ergebnis: Bis Ende August muss IWF-Repräsentantin Iryna Ivaschenko nun ihr Büro im Innenstadtbereich von Budapest räumen, in Berlin, Paris und Brüssel schütteln Abgeordnete den Kopf über Ungarn. Warum wütet Viktor Orbán gegen seine wichtigsten Geldgeber?
Ungarn will Geld, keine Kritik
"Zunächst einmal betrachtet der Ministerpräsident jede Kritik aus Europa – und sei sie auch noch so berechtigt – als unangemessene Einmischung von außen", sagt András Inotai, ehemaliger Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Budapest. Orbán sehe sich in der Rolle des Freiheitskämpfers, der Ungarn gegen die ausländischen Mächte verteidigt, die – so Orbáns Wortwahl – ihre Herrschaft über das osteuropäische Land ausdehnen möchten. Dazu zählt die EU genauso wie der IWF und ausländische Banken. Eine Ausnahme sind – vorerst noch - deutsche Autohersteller wie Audi und Mercedes, die große Werke in Ungarn betreiben und viele Leute beschäftigen.
Auch im Umgang mit der EU beweist die ungarische Regierung erstaunliche Flexibilität. Trotz aller Kritik, nimmt Budapest die Milliarden aus den Brüsseler Fördertöpfen gerne und selbstverständlich entgegen.
Ohne das Geld der EU läuft nichts
"Der Premier denkt, dass die EU quasi die Pflicht habe, Ungarn jeden finanziellen Betrag zur Verfügung zu stellen. Er reduziert die Mitgliedschaft des Landes in der EU auf den Erhalt von Milliarden von Euro – ohne Rücksicht auf die Einhaltung europäischer Grundrechte und gemeinsamer Werte", bemängelt Inotai.
Überraschend ist das nicht. Schließlich ist Ungarn wie kaum eine zweite Nation von den Fördergeldern der Brüsseler Staatengemeinschaft abhängig. Das Land ist einer der größten Nettoempfänger. Ohne das Geld läuft in Ungarn fast gar nichts. "Die EU-Förderprogramme sind fast ausschließlich die Hauptfinanzierungsquelle", sagt Erika Anders-Clever, Repräsentantin bei "Germany Trade & Invest" in Budapest, der Bundesgesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing. Würden diese Gelder wegfallen, wären zahlreiche Infrastrukturprojekte in Gefahr.
Ungarn kann sich kaum noch finanzieren
"Gebaut wird inzwischen nur noch, wenn eine EU-Finanzierung hinter einem Vorhaben steckt", sagt Anders-Clever. Denn Auftragnehmer wie Anleger wissen: Beim Staat gibt es nicht mehr viel zu holen. Wie lange die Regierung noch offene Rechnungen zahlen kann, ist fraglich. Fakt ist: An den Märkten kann sich Ungarn kaum mehr finanzieren, nachdem alle der drei großen Ratingagenturen ungarische Staatsanleihen reihenweise abgewertet haben.
Das ist Viktor Orbán
Viktor Orbán, 1963 geboren, wuchs in bescheidenen Verhältnissen in einem Dorf bei Szekesfehervar - 70 Kilometer südwestlich von Budapest - auf. Im ländlichen Umfeld seiner Kindheit galt er als schwer erziehbar.
Als Jurastudent in der Hauptstadt Budapest rebellierte Orbán mit Gleichgesinnten gegen den geistlosen Obrigkeitsstaat im späten Kommunismus. Der Fidesz, den er mitbegründete, war die erste unabhängige Jugendorganisation dieser Zeit.
1998 übernahm Orbán erstmals die Regierungsgeschäfte. Mit 35 Jahren war er damals der jüngste Ministerpräsident der ungarischen Geschichte.
Als Orbán 2002 überraschend die Wahl und damit die Regierungsmacht verlor, wollte er sich damit nicht abfinden. Er ließ seine Anhänger aufmarschieren und reklamierte auf "Wahlbetrug". Die regierende Linke setzte der Oppositionsführer immer wieder mit Straßenkundgebungen und Volksabstimmungen unter Druck.
Die Wahlen im Frühjahr 2010 brachten Orbán die langersehnte Rückkehr an die Macht, noch dazu mit der verfassungsrelevanten Zweidrittelmehrheit für seine Fidesz-Fraktion.
Nach seiner Rückkehr sprach Orbán umgehend von einer "Revolution der Wahlkabinen" und von der Ankunft eines neuen "Systems der nationalen Zusammenarbeit".
Das bedeutete in der Praxis die Aushöhlung demokratischer Institutionen. Kritiker zufolge ordnet Orbán seine ganze Politik seinen Machtbedürfnissen unter. So würden auch die kürzlich verabschiedeten Verfassungsänderungen vor allem dazu dienen, dass Orbán noch mehr schalten und walten kann, wie er will.
Für die nächsten 15 bis 20 Jahre, so erklärte Orbán vor Partei-Intellektuellen, müsse "ein einziges politisches Kraftfeld die Geschicke der Nation bestimmen".
Auch der Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt ist für Ungarn lebensnotwendig. Rund drei Viertel aller Exporte und mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts werden auf EU-Märkten abgesetzt. Dennoch verkennt der ungarische Ministerpräsident die Vorteile und behauptet, für sein Land gebe es auch "ein Leben außerhalb der EU".
Wirtschaft spielt nur eine Nebenrolle
„Die Vorteile der internationalen Einbettung der Wirtschaft spielen in Ungarn seit drei Jahren eine zweitrangige Rolle. Das Hauptaugenmerk der Regierung liegt darauf, einheimische und der Politik nahestehende Geschäftsleute (oft bei Missachtung der EU-Wettbewerbsregeln) ins Spiel zu bringen und dadurch ihre politische Macht für die nächsten 20 Jahre zu zementieren – egal, zu welchem Preis.“
Das scheint durchaus zu gelingen. Die Proteste in Ungarn halten sich in Grenzen. Außer ein paar wenigen Studenten gibt es kaum hörbare kritische Stimmen am Kurs der Regierung. Die Gründe: Die Opposition ist zerstritten, die Medien sind von der Regierung auf Linie getrimmt – und die Bürger durch falsche Fakten geblendet.
Orbán-Regierung hat "überhaupt keine Ahnung"
So rühmt sich die Regierung, dass sie die Neuverschuldung des Staates reduziert hat. In der Tat lag das Defizit im vergangenen Jahr mit 1,9 Prozent deutlich unter der Maastricht-Grenze. Das können nur weniger EU-Mitgliedsstaaten behaupten. Die Kommission stoppte daraufhin das Defizitverfahren gegen Ungarn. Allerdings gelang die Einhaltung der Defizitkriterien nur, weil zahlreiche Steuern eingeführt wurden. So beträgt die Mehrwertsteuer inzwischen 27 Prozent, nirgendwo in der EU ist der Satz höher. Selbst Lebensmittel werden mit drastischen 18 Prozent besteuert. Zudem griff Orbán in die Rentenkasse, verstaatliche die privaten Fonds und nutzte das Geld, um Schulden zu begleichen.
Um ein Gefühl von Gerechtigkeit zu vermitteln, ließ Viktor Orbán auch Unternehmen zur Kasse bitten. Insbesondere Banken und Energiekonzerne wurden mit neuen Abgabeforderungen belastet. Nur: Sie gaben die Steuern in Form von höheren Gebühren an die Kunden weiter.
Ungarns Stärken
Ungarn ist ein Transitland mit gutem Infrastrukturangebot sowie Logistikinfrastruktur und gilt als Brückenkopf zu Ost-/Südosteuropa.
Ungarn verfügt über gut ausgebildete und motivierte Arbeitskräfte bei niedrigem Lohnniveau.
Das Land gilt als günstiges Umfeld für Investitionen im verarbeitenden Sektor, allem voran im Kfz-Bau.
Ungarn kann zudem mit einer hohen Produktivität sowie vergleichsweise niedrigen Steuern für kleine und mittlere Unternehmen und höhere Einkommen punkten.
Die Wirtschaft des Landes profitiert von einer engen Verflechtung zu Deutschland, insbesondere Süddeutschland.
„Die Leute, die an der Macht sind, haben von Wirtschaft entweder überhaupt keine Ahnung oder sie sind unverschämt“, ärgert sich Inotai. Die Folge: Ungarn steckt in der Sackgasse. Der einheimische Konsum und die Investitionen sind auf ein Rekordtief von 16 Prozent des BSP gesunken Darüber hinaus zeigt auch der früher erfolgreiche Exportsektor Wachstums-, Struktur- und zunehmend auch Wettbewerbsschwächen.
Ungarns Schwächen
Einzelne Sektoren wie Banken oder Energie haben in Ungarn mit extremen steuerlichen Belastungen zu kämpfen.
Vor allem in technischen Berufen herrscht in Ungarn Fachkräftemangel.
Trotz des günstigen Investitionsumfelds fiel die Investitionsquote Ungarns auf nur noch 17 Prozent.
Durch das schwindende Vertrauen Ungarns im Ausland sinkt der FDI-Zufluss (Foreign Direct Investment, ausländische Direktinvestitionen)
Durch die Zuspitzung der Kreditklemme im Land drohen Insolvenzen und Zahlungsausfälle.
Doch auch die Europäische Union steckt in der Klemme. Stoppt sie (zumindest zeitweise) die Auszahlung von EU-Fördermitteln, droht die ungarische Wirtschaft zusammenzubrechen und vielen Menschen die Arbeitslosigkeit. Bleibt Brüssel untätig, verliert die Staatengemeinschaft an Glaubwürdigkeit.
„Die EU hat es verpasst, die Orbán-Regierung schon 2010 in die Schranken zu weisen“, klagt Inotai. Unmittelbar nachdem seine Fidesz-Partei – zweifelsfrei demokratisch – gewählt wurde, hat sie als eine der ersten Maßnahmen die Pressefreiheit eingeschränkt. „Das war ein ganz klares Zeichen, wie die Regierung demokratischen Grundrechte missachtet“, so Inotai. Doch in Brüssel hielt man die Füße still.
Nun bleibt den EU-Mitgliedsländern nur noch, Ungarn bei Abstimmungen auf EU-Ebene seine Stimme zu entziehen. Dadurch allerdings könnte die europa-kritische Stimmung in Budapest zunehmen. Die Zusammenarbeit mit Viktor Orbán und seinen Vertretern bleibt schwierig – außer beim Thema Frauenquote.
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