Europa Deutsche und Franzosen - in Gleichgültigkeit vereint

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„Wir müssen uns entscheiden“

Sicher, manche Gedanken, Ideen und Romane schaffen den Sprung über den Rhein. Michel Houellebecq schockiert mit abgründigen Dystopien auch das deutsche Publikum. Ferdinand von Schirachs Variationen der Schuld finden auch in Frankreich Leser. Leïla Slimani hingegen, die 2016 den wichtigsten französischen Literaturpreis gewann, den Prix Goncourt, ist noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Und Bodo Kirchhoff, Träger des Deutschen Buchpreises 2016, hat nur die Übersetzung von „Infanta“ ins Französische erlebt, vor 25 Jahren.

Der "ewige Zweite" auf dem Weg nach oben
François Fillon Quelle: AP
Francois Fillon Quelle: REUTERS
Francois FIllon und Vladimir Putin Quelle: AP
Fillon 2009 bei einer Privataudienz bei Papst Benedikt XVI. Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der französische Premierminister, Francois Fillon 2010 Quelle: dpa
Francois Fillon mit seiner Frau Penelope Quelle: REUTERS
Francois Fillon Quelle: dpa

Isabelle Bourgeois, Tochter einer Deutschen und eines Franzosen, kritisiert vor allem einen unrealistischen Blick auf den Nachbarn. „Frankreichkenner in Deutschland sind meist Romanisten, die eine rosarote Brille tragen und von der Provence schwärmen“, so Bourgeois. Aufseiten Frankreichs hingegen überwiege ein prosaischer Blick auf die Verhältnisse: Deutschland wird entweder als Reformland gewürdigt oder, sehr viel häufiger, als abschreckendes Beispiel für sozialen Kahlschlag gebrandmarkt.

Einer der wenigen Orte, an dem so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit existiert, ist ausgerechnet Brüssel, wo Politiker, Beamte und Journalisten die Dringlichkeit grenzüberschreitender Debatten erleben. „In meiner Fraktion war es unmöglich, nicht mitzubekommen, worüber Franzosen, Niederländer und Esten gerade sprechen“, erinnert sich die Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner, die von 2009 bis 2013 für die Grünen im Europaparlament saß. Heute liest sie regelmäßig „Le Monde“ und „El Pais“, um zu verstehen, was Franzosen und Spanier gerade bewegt, um die Fremdperspektive probeweise einzunehmen und eine gesamteuropäische Sichtweise zu gewinnen. „In Brüssel selbst“, so Brantner, „musste ich mich darum nicht eigens bemühen.“

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von Ferdinand Knauß

Sich in den Standpunkt des anderen hineinzuversetzen – dank Internet wäre das heute leichter als je zuvor. Aber was, wenn 20 Prozent der Bundesbürger nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat gar keine Fremdsprache beherrschen? Und wenn dieser Anteil in Frankreich, Italien und Portugal sogar bei 40 Prozent liegt?

Der Kern des Problems aber ist und bleibt, dass das Projekt Europa nichts Ansteckendes hat, dass es die Bürger nicht emotional zu packen versteht. Dass ihm, wie Cohn-Bendit diagnostiziert, ein „Haut-Goût“ anhaftet, ein leichter Geruch von Verwesung. Entsprechend urteilt auch Hans Magnus Enzensberger über Brüssel: „Politik hinter verschlossenen Türen. Geheimniskrämerei. Kabinettspolitik.“ Dabei findet ein Teil der Sitzungen der EU-Minister öffentlich statt und wird live im Internet übertragen.

Was also tun? Versuche, einen paneuropäischen Verständigungsraum zu schaffen, der die Vielstimmigkeit zum Klingen bringt, sind möglicherweise zu ehrgeizig. Die situationsweise Verknüpfung nationaler Öffentlichkeiten allerdings könnte gelingen. In den vergangenen Jahren wurde in allen 28 EU-Staaten über Griechenlandhilfen und Flüchtlinge diskutiert – unter unterschiedlichen Vorzeichen.

Zu begreifen, dass Debatten unter nationalen Vorzeichen verengt werden, wäre ein erster Schritt. „Wir müssen uns entscheiden“, sagt Isabelle Bourgeois. „Scheren wir Europa über den nationalen Kamm? Oder lernen wir endlich auch die Positionen unserer Nachbarn schätzen?“

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