Europäische Realpolitik Warum die Türkei die Visafreiheit bekommt, obwohl sie die Auflagen nicht erfüllt

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Wollen massenhaft Türken Asyl in Europa?

Die EU würde der Türkei ein Privileg zugestehen, dass auch andere EU-Beitrittskandidaten genießen. Für Serbien, Montenegro und Albanien gilt die Visafreiheit bereits.

In einigen europäischen Hauptstädten gibt es nun die Sorge, dass Kurden oder in ihrer Heimat verfolgte Türken nun massenhaft in die EU kommen könnten, um hier einen Asylantrag zu stellen. Knaus rechnet nicht mit einer solchen Entwicklung. Aber selbst wenn es so kommen würde, könnten die EU-Staaten das Problem durch schnelle Asyl-Verfahren in den Griff bekommen, ist der Türkei-Experte überzeugt. Die meisten Türken hätten demnach aller Voraussicht nach, kein Anrecht auf Asyl. Und was ist beispielsweise mit verfolgten Journalisten? „Für die wäre es gut, wenn sie einfacher nach Europa kommen, um hier Hilfe und Asyl zu erhalten“, sagt Knaus.

Was kann die EU jetzt tun, um ihre Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren? Aus Sicht von Knaus muss die EU die Verhandlungen über Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit fortführen. Und noch wichtiger: Die EU soll sich weiter für das Schicksal jener Flüchtlinge interessieren, die sie in die Türkei zurückschickt. „Die Türkei muss gewährleisten, dass jeder zurückgeschickte Syrer, bei ihnen sicher ist“, sagt Knaus. Das könnte beispielsweise das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, der UNHCR, überprüfen. Die europäischen Staaten sollten den Vereinten Nationen zu diesem Zweck eine Namensliste schicken, wer wann von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgebracht wurde. Der UNHCR könnte dann regelmäßig deren Schicksale überprüfen.

Anfang April hatte Amnesty International kritisiert, die Türkei habe seit Anfang des Jahres jeden Tag bis zu 100 syrische Flüchtlinge in ihr Heimatland und somit in ein Kriegsgebiet zurückgeschickt. Die Türkei bestreitet die Vorwürfe. Um wie viele Fälle es tatsächlich geht, ist unklar – die Vorwürfe bleiben ungeklärt im Raum stehen.

Fatal wäre es, wenn die Europäische Union der Türkei die Visafreiheit in einigen Wochen gewährt – und so tut als hätte sie alle Auflagen erfüllt – auch im Bereich der Menschenrechte. Knaus hält die Realpolitik zwar für nötig. „Wir sollten die Defizite aber nicht verschweigen.“

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