Immer enger wird die Straße, die sich den Hang am Stadtrand von Varna hinaufwindet. Bald verschwinden die hässlichen Wohnblocks, die noch aus der Zeit des Kommunismus stammen, im Dunst der Abgase. Der Blick fällt auf eine schäbige Hüttensiedlung. Am Rande der Gassen hocken Männer und rauchen.
Varna am Schwarzen Meer hat 300.000 Einwohner, und wer nicht in diesem Elendsviertel wohnt, verirrt sich kaum hierhin. Kinder in verschmierter Unterwäsche rennen einem alten Fußball hinterher. Wenige Meter weiter wühlt ein Schwein im Müll. Irgendwo dazwischen liegen zwei ausgebrannte Autos. Die hübschen Touristenstrände von Varna sind sehr weit weg.
Ein schmaler Hof führt zu der Hütte, in der Elia Schopow an diesem Nachmittag sitzt. Der 20-Jährige ist wie alle anderen Bewohner der Siedlung Roma. Mahala nennen sie so ein Hüttendorf. Es ist ein Slum, wie es ihn auch in asiatischen Metropolen wie Mumbai oder Jakarta gibt. Nur sind wir hier in einem Land der EU.
Klar hat Schopow von den vielen Roma gehört, die in diesen Tagen nach Deutschland auswandern. „Da ist halt das Geld“, sagt der junge Mann, und seine Augen beginnen zu leuchten. Doch schnell wird er nachdenklich. Viele Roma in Deutschland arbeiten im Sexgeschäft, hat er gehört. „Viel besser als hier ist es dort wahrscheinlich auch nicht.“ Lieber würde Schopow in seiner Heimat ein neues Leben beginnen: einen Schulabschluss nachholen und dann raus aus der Mahala, wo er und seine Familie jetzt leben – 15 Leute in zwei Zimmern.
Insgesamt 70.000 Roma leben in den Slums von Varna. In ganz Bulgarien sind es offiziellen Angaben zufolge gut 500.000. Tatsächlich dürften es rund 700.000 sein – knapp zehn Prozent der Bevölkerung des Landes, das 2007 der EU beitrat. Drogenhandel, Diebstahl und Gewalt sind in den Roma-Ghettos an der Tagesordnung.
Am 12. Mai wählen die Bulgaren ein neues Parlament. Nach den Demonstrationen und Unruhen vom Februar wegen drastischer Preiserhöhungen vor allem beim Strom war Ministerpräsident Bojko Borissow zurückgetreten. Seine Partei GERB – die Abkürzung steht für „Bürger für die europäische Entwicklung Bulgariens“ – liegt auch jetzt wieder vorne. Um erneut Regierungschef zu werden, wird Borissow allerdings einen Koalitionspartner brauchen.
Wer in Sofia auf der Regierungsbank sitzt, ist Schopow egal. „Die helfen uns sowieso nicht“, sagt der Roma. Seine Freunde nicken. Dabei haben sie alle den gleichen Wunsch an die Politik: „Die Schulen müssten erweitert werden“, sagt Schopow, „damit alle einen Platz bekommen.“
Geld dazu wäre da, Bulgarien gilt als finanzpolitisches Musterland der EU. In diesem Jahr dürfte die öffentliche Verschuldung des Landes bei 16,6 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Die Borissow-Regierung hatte, als die Finanzkrise auch Bulgarien erfasste, einen knallharten Sparkurs eingeschlagen. Ohne Alternative sei der gewesen, finden Analysten wie Kristofor Pavlov, Ökonom bei der Bank UniCredit in Sofia. Andere dagegen sagen, die Regierung habe das Land kaputtgespart. Mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von umgerechnet 350 Euro ist Bulgarien das Armenhaus der EU.
Separate Schulen für Roma
Um die Not der Roma zu lindern, hatte die bulgarische Regierung 2005 einen Zehnjahresplan aufgelegt: „Die Dekade der Roma-Inklusion“. Der dafür reservierte Betrag ließ die Umsetzung allerdings zweifelhaft erscheinen, sagt Sonja Schüler, Roma-Expertin an der Universität Freiburg in der Schweiz. 3,7 Millionen Euro im Jahr will Sofia im Rahmen dieses Plans für Maßnahmen zur Integration der Roma ausgeben, deutlich weniger als sechs Euro pro einzelnen Angehörigen der Volksgruppe.
Brüssel fördert die Minderheit in Bulgarien mit vielen Milliarden Euro, doch große Teile des Geldes versickern in dunklen Kanälen, berichten Beteiligte in Varna. Ein beliebtes Modell: Vertreter der lokalen Behörden gründen im Verbund mit örtlichen Mafiagrößen zum Schein eine Nichtregierungsorganisation (NGO), schreiben einen Pseudoprojektvorschlag und streichen EU-Gelder ein. Vor allem die bulgarische Mafia hat kein Interesse an einer Verbesserung der Situation der Roma: Solange die bittere Armut anhält, bleiben sie für die Geschäftsfelder Drogen, Organhandel, Kinderhandel und Prostitution nützlich.
Hilfe kommt von anderer Stelle, wenn auch in kleinen Schritten. Vom Roma-Ghetto in Varna ist es nicht weit zur Grundschule. Dort treffen wir die Schulleiterin Pavlina Mandajiewa. In der vierten Klasse steht Natur und Technik auf dem Stundenplan. Mandajiewa erklärt die Erdanziehung, die 26 Schüler hören gespannt zu.
Unter ihnen sind auch drei Roma-Kinder. Ungewöhnlich in Bulgarien, wo die Politik bisher eine strikte Trennung verfolgte: Für Roma-Kinder gibt es eigene Schulen. Einer, der dieses ändern möchte, ist Frank Abbas. „Der Aufstieg der Roma kann nur funktionieren, wenn die strikte Trennung aufgehoben wird“, sagt der Deutsche. Auch Schulleiterin Mandajiewa hält nichts von separatem Unterricht, Diskriminierung sei das.
Vor acht Jahren kam Abbas nach Varna. Eigentlich wollte der gebürtige Bremer in Bulgarien eine Spedition gründen. Doch als er die Not der Roma sah, begrub er den Plan und rief eine NGO ins Leben. Das wichtigste Ziel: der ethnischen Minderheit den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Immer wieder redete er auf die Behörden in Varna ein, sie möchten die Grundschule doch auch für Roma-Kinder öffnen. Schließlich gaben die Beamten nach. Mehr als 300 junge Leute aus den Mahalas in Varna hat Abbas bis heute in die Schulen am Ort gebracht.
Doch es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Noch immer hat der Deutsche, dessen NGO sich nur aus Spenden finanziert, in der Stadtverwaltung viele Gegner, die örtliche Mafia bekämpft ihn sowieso. Immerhin kommt nun Unterstützung aus Teilen der deutschen Wirtschaft in Bulgarien. Der örtliche Daimler-Statthalter Manfred Multz etwa macht sich unter anderem dafür stark, das Roma-Schulabgänger auch einen Platz in den von Deutschen finanzierten Berufsbildungszentren finden.
Der 20-jährige Elia Schopow etwa wäre ein Kandidat. Auf Abbass’ Drängen holt er in einer Abendschule zurzeit den Abschluss nach.