Europäische Union Die Armut dominiert in Bulgarien

Nur 350 Euro haben die Bulgaren durchschnittlich zum Leben. Viele EU-Fördergelder sind versickert. Von der Parlamentswahl erhoffen sich die Bürger nichts.

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Welche Krisenstaaten 2013 das meiste Geld brauchen
Es war das Geschenk für Griechenland zum neuen Jahr: Am 18. Dezember hat die Ratingagentur Standard & Poor's die Kreditwürdigkeit Griechenland gleich um sechs Stufen auf das Level B- angehoben, Aussicht: stabil. Dank der neuen Pro-Griechenland-Haltung der Europäischen Union glaubt die Agentur nicht länger an einen "teilweisen Kreditausfall" des Landes. Der Schuldenberg des kleinen Mittelmeerlandes ist allerdings weiterhin erdrückend. Allein 290 Milliarden Euro, etwa das 1,5-fache Bruttoinlandsprodukt, schuldet der Staat Investoren in aller Welt. 2012 gab das Land Staatsanleihen im Volumen von rund 93 Milliarden Euro aus. Fällig werden 2013 allerdings nur 28,5 Milliarden und auch in den nächsten Jahren belaufen sich Rückzahlungen in kleinerem Rahmen. Interessant wird es erst 2017: Binnen einem Jahr muss Griechenland dann Anleihen im Wert von 60 Milliarden Euro ablösen. Sollte das Rating Griechenlands allerdings tatsächlich längerfristig auf dem jetzigen Niveau bleiben, stehen die Chancen nicht schlecht, dass das Land weniger auf EU-Hilfen angewiesen sein wird und sich verstärkt über den Kapitalmarkt refinanzieren kann. Quelle: dapd
Geld ist schön, weil es eine Befreiung bedeutet, wusste der Portugiesische Nationaldichter Fernando Pessoa bereits in den 1920er-Jahren. Das Elf-Millionen-Land am Rande Europas wartet tatsächlich auf eine Befreiung. Gegenwärtig lasten gewaltige Schulden auf seinen Schultern. 2011 erhielt Portugal rund 80 Milliarden Euro Hilfe aus dem europäischen Rettungsschirm, die Ratingagentur Moody's stufte das Land im Februar 2012 auf das Niveau Ba3 herab. Portugiesische Staatanleihen waren fortan "spekulativ". Insgesamt hält Portugal derzeit über 200 Milliarden Euro an Verbindlichkeiten aus Staatspapieren, das sind knapp 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 13,7 Milliarden neuer Anleihen kamen 2012 hinzu. Dagegen werden 2013 Staatspapiere in Höhe von rund 19,6 Milliarden Euro fällig. Dabei ist der September der kritische Monat: Dann muss Portugal auf einen Schlag sechs Milliarden Euro an Investoren zurückzahlen. Quelle: dapd
Ryanair ist trotz mancher kleineren Panne eines der erfolgreichsten Unternehmen, das Irland derzeit hat. Wann wird sich das einstige Vorzeigeland Europas, das als erstes europäische Finanzhilfe in Anspruch nahm, wieder aufrappeln können? Gegenwärtig sind die Schulden weiter bedrohlich, bereits seit Ende 2011 rangiert Irland bei Moody's unter "spekalutive Anlage" (Rating Ba1). Konkret fallen Irland allein aus Staatspapieren rund 172 Milliarden Euro Verbindlichkeiten an und übersteigen damit das Bruttoinlandsprodukt, das 2012 bei rund 162 Milliarden Euro lag. Nur 9,5 Milliarden Euro konnte sich das Land 2012 von Investoren leihen. 6,1 Milliarden Euro muss es im nächsten Jahr refinanzieren. Quelle: dpa
Auch Spanien kämpft mit den Auswirkungen der Krise. Im Juni 2012 schlüpfte das Land nach längerem Zögern unter den europäischen Rettungsschirm. Die EU sicherte 100 Milliarden Euro Garantien für notleidende Banken zu. Die Regierung unter dem konservativen Mariano Rajoy setzte fortan auf harsche Sparmaßnahmen etwa im Gesundheitssektor. Rund 940 Milliarden Euro an Verbindlichkeiten in Form von Staatspapieren hält Spanien, rund 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Knapp 100 Milliarden neue Schulden konnte das Land dabei 2012 aufnehmen, 151 Milliarden muss es in 2013 refinanzieren. Wie teuer das wird, ist noch ungewiss. Im Oktober hatte die Ratingagentur Moody's die Kreditwürdigkeit spanischer Staatspapiere als "durchschnittlich gute Anlage" (Baa3) bestätigt. Quelle: dapd
Fast wäre Italien im vergangenen Jahr unter der Schuldenlast zusammengebrochen. Dank der Technokratenregierung unter Führung des Wirtschaftsprofessors Mario Monti konnte das Land das Schlimmste abwenden, ging Reformen an und erlangte das Vertrauen der Investoren zum Großteil zurück: Für zehnjährige Staatsanleihen sank der Zins von mehr als sieben zwischenzeitlich auf 4,5 Prozent. Bei der letzten Auktion Ende des Jahres lag er wieder bei 5,5 Prozent. Trotz allen Reformeifers steckt das Land finanziell weiter in der Schlinge. Italien hält insgesamt 2,13 Billionen Euro Schulden in Staatspapieren, 291 Milliarden kamen allein 2012 hinzu. Ein wenig mehr, rund 312 Milliarden Euro, werden 2013 fällig und müssen refinanziert werden. Der größte Brocken, rund 25 Milliarden Euro, fällt im August an. Es wäre Italien zu wünschen, dass Monti auch nach den Wahlen im Februar weiterregieren und Italien auf Wachstumskurs trimmen kann. Dann vielleicht könnten die führenden Ratingagenturen Italien wieder bessere Kreditwürdigkeit zusichern. Moody's hatte Italien zuletzt im Juli 2012 auf das Niveau Baa2 herabgestuft, mit damals noch negativen Aussichten. Moody's fürchtete vor allem das fehlende Vertrauen der Märkte und eine Negativspirale, sollten andere Krisenstaaten weitere EU-Hilfen beantragen oder Griechenland aus der Währungsunion ausscheiden. Quelle: dpa
Belgien steht in Europa vor allem für zwei Dinge. Innenpolitisch dringt hin und wieder der Streit zwischen Politikern aus dem flämischen und wallonischen Landesteil an die Öffentlichkeit, der stets die Regierungsbildung erschwert. Aus europäischer Sicht ist Brüssel der zentrale Treffpunkt der Diplomatie und Sitz der Europäischen Kommission. Doch wie steht es um die Schulden des Landes? Die laufenden Staatsanleihen übertreffen mit einem Volumen von 440 Milliarden Euro das Bruttoinlandsprodukt um 17 Prozent. Voraussichtlich ein ähnlich großes Volumen an neuen Staatsanleihen wie 2012 muss Belgien in diesem Jahr emittieren, um die gut 60 Milliarden Euro Verbindlichkeiten aus Staatspapieren zu bedienen, die 2013 fällig werden. Im März muss das Königreich rund 16 Milliarden, im September 18 Milliarden Euro refinanzieren. Die Ratingagentur Moody's hatte die Kreditwürdigkeit Belgiens bereits Ende 2011 auf Aa3 herabgestuft, belgische Papiere gelten demnach weiterhin als sicher. Doch zweifelt Moody's langfristig am Wachstumspotenzial des kleinen Königsreichs. Quelle: dpa
Seit dem 26. Dezember regiert der Liberaldemokrat Shinzo Abe, nach 2006 bereits zum zweiten Mal, Japan. Bereits weniger Tage nach seinem Amtsantritt gab er deutlich die politische Richtung vor. Japan setzt weiter auf Atomkraft und Japan schwächt den Yen. Unter dem Druck des neuen Regierungschefs will die japanische Notenbank Wertpapiere mehr als zehn Billionen Yen (rund 85 Milliarden Euro) aufkaufen. Ob dadurch die hohe Schuldenlast abebbt und sich die deflationäre Stimmung im Land dreht, ist unklar. Derzeit schuldet Japan den Finanzmärkten rund eine Billiarden Yen (etwa acht Billionen Euro). Ein gutes Viertel davon, rund 251 Billionen Yen (2,1 Billionen Euro), gab Japan 2012 an neuen Staatsanleihen aus. Wie Belgien schätzt die Ratingagentur Moody's auch die Kreditwürdigkeit Japans als "sicher" (Aa3) ein. 2013 muss Japan rund 261 Billiarden Yen (2,23 Milliarden Euro) aus fälligen Staatspapiere ablösen. Quelle: dpa

Immer enger wird die Straße, die sich den Hang am Stadtrand von Varna hinaufwindet. Bald verschwinden die hässlichen Wohnblocks, die noch aus der Zeit des Kommunismus stammen, im Dunst der Abgase. Der Blick fällt auf eine schäbige Hüttensiedlung. Am Rande der Gassen hocken Männer und rauchen.

Varna am Schwarzen Meer hat 300.000 Einwohner, und wer nicht in diesem Elendsviertel wohnt, verirrt sich kaum hierhin. Kinder in verschmierter Unterwäsche rennen einem alten Fußball hinterher. Wenige Meter weiter wühlt ein Schwein im Müll. Irgendwo dazwischen liegen zwei ausgebrannte Autos. Die hübschen Touristenstrände von Varna sind sehr weit weg.

Ein schmaler Hof führt zu der Hütte, in der Elia Schopow an diesem Nachmittag sitzt. Der 20-Jährige ist wie alle anderen Bewohner der Siedlung Roma. Mahala nennen sie so ein Hüttendorf. Es ist ein Slum, wie es ihn auch in asiatischen Metropolen wie Mumbai oder Jakarta gibt. Nur sind wir hier in einem Land der EU.

Klar hat Schopow von den vielen Roma gehört, die in diesen Tagen nach Deutschland auswandern. „Da ist halt das Geld“, sagt der junge Mann, und seine Augen beginnen zu leuchten. Doch schnell wird er nachdenklich. Viele Roma in Deutschland arbeiten im Sexgeschäft, hat er gehört. „Viel besser als hier ist es dort wahrscheinlich auch nicht.“ Lieber würde Schopow in seiner Heimat ein neues Leben beginnen: einen Schulabschluss nachholen und dann raus aus der Mahala, wo er und seine Familie jetzt leben – 15 Leute in zwei Zimmern.

Insgesamt 70.000 Roma leben in den Slums von Varna. In ganz Bulgarien sind es offiziellen Angaben zufolge gut 500.000. Tatsächlich dürften es rund 700.000 sein – knapp zehn Prozent der Bevölkerung des Landes, das 2007 der EU beitrat. Drogenhandel, Diebstahl und Gewalt sind in den Roma-Ghettos an der Tagesordnung.

Am 12. Mai wählen die Bulgaren ein neues Parlament. Nach den Demonstrationen und Unruhen vom Februar wegen drastischer Preiserhöhungen vor allem beim Strom war Ministerpräsident Bojko Borissow zurückgetreten. Seine Partei GERB – die Abkürzung steht für „Bürger für die europäische Entwicklung Bulgariens“ – liegt auch jetzt wieder vorne. Um erneut Regierungschef zu werden, wird Borissow allerdings einen Koalitionspartner brauchen.

Öffentliche Verschuldung Bulgariens Quelle: Raiffeisen Research

Wer in Sofia auf der Regierungsbank sitzt, ist Schopow egal. „Die helfen uns sowieso nicht“, sagt der Roma. Seine Freunde nicken. Dabei haben sie alle den gleichen Wunsch an die Politik: „Die Schulen müssten erweitert werden“, sagt Schopow, „damit alle einen Platz bekommen.“

Geld dazu wäre da, Bulgarien gilt als finanzpolitisches Musterland der EU. In diesem Jahr dürfte die öffentliche Verschuldung des Landes bei 16,6 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Die Borissow-Regierung hatte, als die Finanzkrise auch Bulgarien erfasste, einen knallharten Sparkurs eingeschlagen. Ohne Alternative sei der gewesen, finden Analysten wie Kristofor Pavlov, Ökonom bei der Bank UniCredit in Sofia. Andere dagegen sagen, die Regierung habe das Land kaputtgespart. Mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von umgerechnet 350 Euro ist Bulgarien das Armenhaus der EU.

Separate Schulen für Roma

Die größten Nettoempfänger der EU
Ein bulgarischer Landwirt hält eine Nationalflagge während Protesten in Sofia Quelle: dpa
Eine Frau mit einer Rumänischen Flagge Quelle: dapd
Blitze über Bratislava Quelle: dpa
Die Altstadt von Vilnius Quelle: AP
Blick aus dem Rathausturm in Prag Quelle: dpa
Die Projektion der portugiesischen auf einem historischen Gebäude Quelle: REUTERS
Das ungarische Parlament Quelle: dpa

Um die Not der Roma zu lindern, hatte die bulgarische Regierung 2005 einen Zehnjahresplan aufgelegt: „Die Dekade der Roma-Inklusion“. Der dafür reservierte Betrag ließ die Umsetzung allerdings zweifelhaft erscheinen, sagt Sonja Schüler, Roma-Expertin an der Universität Freiburg in der Schweiz. 3,7 Millionen Euro im Jahr will Sofia im Rahmen dieses Plans für Maßnahmen zur Integration der Roma ausgeben, deutlich weniger als sechs Euro pro einzelnen Angehörigen der Volksgruppe.

Brüssel fördert die Minderheit in Bulgarien mit vielen Milliarden Euro, doch große Teile des Geldes versickern in dunklen Kanälen, berichten Beteiligte in Varna. Ein beliebtes Modell: Vertreter der lokalen Behörden gründen im Verbund mit örtlichen Mafiagrößen zum Schein eine Nichtregierungsorganisation (NGO), schreiben einen Pseudoprojektvorschlag und streichen EU-Gelder ein. Vor allem die bulgarische Mafia hat kein Interesse an einer Verbesserung der Situation der Roma: Solange die bittere Armut anhält, bleiben sie für die Geschäftsfelder Drogen, Organhandel, Kinderhandel und Prostitution nützlich.

Hilfe kommt von anderer Stelle, wenn auch in kleinen Schritten. Vom Roma-Ghetto in Varna ist es nicht weit zur Grundschule. Dort treffen wir die Schulleiterin Pavlina Mandajiewa. In der vierten Klasse steht Natur und Technik auf dem Stundenplan. Mandajiewa erklärt die Erdanziehung, die 26 Schüler hören gespannt zu.

Unter ihnen sind auch drei Roma-Kinder. Ungewöhnlich in Bulgarien, wo die Politik bisher eine strikte Trennung verfolgte: Für Roma-Kinder gibt es eigene Schulen. Einer, der dieses ändern möchte, ist Frank Abbas. „Der Aufstieg der Roma kann nur funktionieren, wenn die strikte Trennung aufgehoben wird“, sagt der Deutsche. Auch Schulleiterin Mandajiewa hält nichts von separatem Unterricht, Diskriminierung sei das.

Vor acht Jahren kam Abbas nach Varna. Eigentlich wollte der gebürtige Bremer in Bulgarien eine Spedition gründen. Doch als er die Not der Roma sah, begrub er den Plan und rief eine NGO ins Leben. Das wichtigste Ziel: der ethnischen Minderheit den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Immer wieder redete er auf die Behörden in Varna ein, sie möchten die Grundschule doch auch für Roma-Kinder öffnen. Schließlich gaben die Beamten nach. Mehr als 300 junge Leute aus den Mahalas in Varna hat Abbas bis heute in die Schulen am Ort gebracht.

Doch es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Noch immer hat der Deutsche, dessen NGO sich nur aus Spenden finanziert, in der Stadtverwaltung viele Gegner, die örtliche Mafia bekämpft ihn sowieso. Immerhin kommt nun Unterstützung aus Teilen der deutschen Wirtschaft in Bulgarien. Der örtliche Daimler-Statthalter Manfred Multz etwa macht sich unter anderem dafür stark, das Roma-Schulabgänger auch einen Platz in den von Deutschen finanzierten Berufsbildungszentren finden.

Der 20-jährige Elia Schopow etwa wäre ein Kandidat. Auf Abbass’ Drängen holt er in einer Abendschule zurzeit den Abschluss nach.

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