Europäische Union Drei Gründe für den Brexit im Faktencheck

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Wenn die Briten die EU verlassen, können sie die Einwanderung drosseln

Doch ist Großbritannien wirklich überreguliert? „Die EU-Gegner führen gerne die europäische Arbeitszeitverordnung an, wonach 48 Wochenstunden das Maximum sein sollen“, sagt EU-Experte Odendahl. Die meisten Briten blieben aber deutlich darunter. „Die Regulierung aus Brüssel schränkt Großbritannien nicht so stark ein, wie viele Kritiker meinen.“

Trotzdem gesteht auch Odendahl ein, dass Großbritannien als Nicht-EU-Mitglied wohl noch liberaler würde als es heute bereits ist. Viele Brexit-Befürworter würden das Vereinigte Königreich gerne zu einer Art Singapur Europas machen. Der Stadtstaat gilt als Tor zum südostasiatischen Raum mit exzellenten Investitionsbedingungen. Odendahl bezweifelt, dass dieser Ansatz funktioniert. „Jedes Land auf der Erde wird die EU Großbritannien vorziehen, wenn es darum geht, Freihandelsabkommen mit Europa zu schließen. Der gesamteuropäische Markt ist deutlich attraktiver als der ausschließlich britische.“

Was die Briten an der EU stört
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

3. Beschränkung der Einwanderung

Wer Bürger in der Europäischen Union ist, darf in jedem EU-Land leben und arbeiten. So sehen es die EU-Freizügigkeitsgesetze vor. Wie in anderen EU-Ländern auch gibt es in Großbritannien eine Debatte darüber, ob der Zuzug, insbesondere aus dem Süden und Osten, gedrosselt werden soll. Da London die Freizügigkeit nicht einseitig aufkündigen kann, wäre der Brexit eine Möglichkeit, Einwanderung aus EU-Staaten zu reduzieren.

Ökonom Odendahl glaubt, dass eine solche Beschränkung der Einwanderung erhebliche Kosten mit sich brächte. „Ich bezweifle, dass gut ausgebildete und junge EU-Bürger der britischen Wirtschaft schaden. Im Gegenteil: Die meisten Einwanderer sind nützlich.“ Aus seiner Sicht muss Großbritannien die innereuropäische Migration ertragen – oder die finanziellen Kosten in Kauf nehmen, wenn man sie per Brexit stoppt. In den letzten 15 Jahren kamen die meisten Einwanderer in Großbritannien im Übrigen nicht aus der EU. „Diese hätte Großbritannien auch so schon einschränken können, wollte es aber aus wirtschaftlichen Gründen nicht“, sagt Odendahl.

Kurzum: Die Argumente der Brexit-Befürworter würden enorme ökonomische Kosten mit sich bringen, die Großbritannien schultern müsste. Der britische Gewerkschaftsbund rechnet mit bis zu vier Millionen Jobs, die verloren gehen könnten. Die Beratungsgesellschaft JWG geht davon aus, dass die Kosten für die Unternehmen in den kommenden zehn Jahren knapp 22 Milliarden Euro betragen könnten. Und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt, dass die britischen Haushaltseinkommen in den nächsten vier Jahren um ein Monatsgehalt sinken könnten, was sich wie massive Steuererhöhungen auswirken würde.

Könnte dieser Schock, wenn er denn eintritt, womöglich zu einer Re-Europäisierung auf der Insel führen? Ökonom Odendahl ist skeptisch. Er hofft auf die junge Generation. „Die meisten EU-Skeptiker stammen aus der Generation 60+. Für junge Briten ist Großbritannien hingegen ein ganz normales EU-Land.“ Der Weg zurück in die EU würde somit wohl Jahre dauern – und Milliarden kosten.

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