Ab heute sind Briten und Kontinentaleuropäer Konkurrenten. Denn die britische Premierministerin Theresa May leitet an diesem Mittwoch den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union ein. Alle Seiten betonen zwar, dass sich Europäer und Briten nicht im Streit trennen wollen – doch genau so wird es wohl kommen. Zu unterschiedlich sind die Interessen der beiden Seiten.
Wie verlassen die Briten die Europäische Union?
Theresa May aktiviert Artikel 50 der Europäischen Verträge. Das ist ein formaler Akt, ein Brief an die EU, dass das Land die Staatengemeinschaft verlassen möchte. Laut Vertrag bleiben dafür zwei Jahre. Wenn die Staats- und Regierungschef die Frist einstimmig verlängern, bliebe mehr Zeit.
Doch mit Blick auf die Europawahlen im Frühjahr 2019 wollen die Europäer ein solches Szenario verhindern. Andernfalls würden zunächst britische Abgeordnete ins künftige EU-Parlament einziehen, um es dann einige Monate später wieder zu verlassen. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Briten ab Ende 2019 auf sich alleine gestellt sein werden und dass die EU ab dann ohne das Vereinigte Königreich auskommen muss.
Wie laufen die Verhandlungen?
Eine Scheidungsverhandlung kann bekanntlich friedlich oder schmutzig ablaufen. Oder anders formuliert: Arbeiten Briten und Europäer in den kommenden zwei Jahren konstruktiv zusammen? Oder kommt es zu einem „dirty Brexit“, also einer Scheidung ohne Regeln für die Zeit danach?
Fünf Krisen, die die EU schon überlebt hat
Als Großbritannien 1963 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der sechs Gründerstaaten beitreten will, legt Frankreichs Präsident Charles de Gaulle sein Veto ein. Großbritannien sei weder politisch noch wirtschaftlich reif, argumentiert er. Erst sein Nachfolger Georges Pompidou bringt die Wende. Der Beitritt der Briten gelingt 1973 - zehn Jahre nach dem ersten Antrag.
Quelle: dpa
Von Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre schwächelt die Gemeinschaft wirtschaftlich und politisch. Von „Eurosklerose“ ist die Rede. Die Konkurrenz aus den USA und Japan macht dem europäischen Markt zu schaffen. Die Mitgliedsländer versuchen, ihre Märkte zu schützen und nationale Interessen durchzusetzen. Die Krise wird überwunden durch neuen Schwung nach den Beitritten von Spanien und Portugal und dem Plan eines gemeinsamen europäischen Binnenmarkts.
Es soll der Startschuss zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sein. Doch die Dänen sagen in einem Referendum Nein zum Vertrag von Maastricht und setzen das politische Europa 1992 unter Schock. Elf Monate vergehen, bis ein Kompromiss mit Sonderrechten ausgehandelt wird, dem die Dänen zustimmen.
Mehrere Mitglieder der vom Luxemburger Jacques Santer geführten EU-Kommission müssen sich einem Misstrauensvotum im Europäischen Parlament wegen möglicher Betrugsaffären stellen. Ein von „fünf Weisen“ erstellter „Bericht über Betrug, Missmanagement und Vetternwirtschaft“ besiegelt kurz darauf das Schicksal der Santer-Kommission. Das gesamte Kollegium tritt im März 1999 zurück.
Mehr Demokratie und Transparenz - darum geht es 2005 in dem mühsam ausgehandelten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ der damals 25 EU-Staaten. Doch die Franzosen und die Niederländer lehnen die EU-Verfassung bei Volksabstimmungen ab. An ihre Stelle tritt letztlich 2009 der Vertrag von Lissabon, der ähnliche Ziele verfolgt.
Die Briten sind seit einem knappen halben Jahrhundert EU-Mitglied. Seitdem wurden weitreichende Verträge geschlossen sowie Hunderte von Verordnungen und Richtlinien erlassen. Gelten all diese EU-Regeln künftig noch – beispielsweise im Arbeitnehmer- oder Verbraucherschutz? Was ist mit Umweltnormen oder die Zulassung von Arzneimitteln? EU und Briten teilen rechtliche Vorschriften, die mehr als 100.000 Seiten füllen.
Theresa May will mit einem Gesetz alle EU-Vorschriften, die derzeit im Vereinigten Königreich gelten, in nationales Recht umwandeln. Was heute gilt, soll also auch noch gelten, wenn die Briten die EU verlassen haben. Das soll Rechtssicherheit für Unternehmen schaffen und den Märkten Vertrauen signalisieren.
Was wollen die Briten erreichen?
Der Regierung von Theresa May geht es um zwei Dinge.
Erstens: Der Brexit soll möglichst günstig werden. Die EU könnte Großbritannien bis zu 60 Milliarden Euro in Rechnung stellen, ist aus Brüssel zu hören. Es geht um Verpflichtungen, die das Land als Teil der Gemeinschaft mit eingegangen ist, beispielsweise Pensionsansprüche britischer EU-Beamter. Die Briten senden gemischte Signale. So sagte der britische Außenminister Boris Johnson, sein Land könnte schlichtweg gar nichts zahlen. Zuvor hatte die Premierministerin versöhnliche Töne gewählt und die Geldfrage nicht zum Hauptproblem erklärt.
Die Briten wollen Freihandel mit der EU, die EU bremst
Zweitens: Die Briten wollen weiterhin Handel mit den Europäern treiben und möglichst wenig ökonomische Nachteile erleiden.
Die Norweger beispielsweise sind nicht in der EU, zahlen aber in den EU-Haushalt ein und haben Zugang zum Binnenmarkt. Im Gegenzug müssen sie unter anderem die Personenfreizügigkeit akzeptieren. Die Briten lehnen das ab und wollen die Zuwanderung begrenzen.
Eine Art EU-Mitgliedschaft zweiter Klasse wird es also nicht geben. May hatte dieses Modell in ihre Brexit-Rede Anfang des Jahres ausgeschlossen.
Vielmehr strebt May ein Freihandelsabkommen mit der EU an. Der britische Brexit-Minister David Davis spricht von einem „free-trade, friction-free open agreement“. Doch um das Grundproblem kommen die Briten nicht herum: Je enger sie mit dem europäischen Binnenmarkt verwoben sein wollen, desto mehr Regeln aus Brüssel müssten sie akzeptieren. Und der Faktor Zeit spielt gegen das Vereinigte Königreich, wie Josef Janning vom „European Council on Foreign Relations“ erklärt. „Für die Briten gehört ein mögliches Freihandelsabkommen zu den Brexit-Verhandlungen dazu, für die EU nicht“, sagt der Politikwissenschaftler. In Brüssel rechnen viele damit, dass ein Freihandelsabkommen nicht bis März 2019 fertig verhandelt werden kann.
In der Vergangenheit hatte May gesagt, kein Deal sei besser als ein schlechter Deal. Damit will sie gegenüber ihrer Bevölkerung Stärke demonstrieren. Doch würde dies bedeuten, dass EU und UK künftig dann nach den Regeln der Welthandelsorganisation Geschäfte machen müssten – inklusive von Zöllen und Handelshemmnissen also.
Was wollen die Europäer erreichen?
Die verbleibenden 27 EU-Staaten haben zwei Interessen.
Erstens: Sie wollen die Prinzipien der EU erhalten – allen voran die sogenannten vier Freiheiten, also die Freiheit des Warenverkehrs, der Arbeitskräfte, der Dienstleistungen und des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Hier tritt die Staatengemeinschaft bislang erstaunlich geschlossen auf. Alle Versuche der Briten, einen Keil zwischen die Europäer zu treiben, waren bislang erfolglos.
Zweitens: Sie wollen Europa zukunftsfest machen. Die Idee von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten wird derzeit wieder stärker diskutiert. „Einzelne Staaten müssen jetzt voran gehen oder die Union wickelt sich ab“, sagt EU-Experte Janning. Viele Kontinentaleuropäer wollen den Brexit nun zu einer Chance umdeuten. Die Botschaft: Man muss nicht die EU verlassen, wenn man mit Brüssel nicht einverstanden ist. „Mehr Integration“ kann künftig auch eine Sache von wenigen sein.
Welcher Verhandlungspunkt wird kritisch?
Das künftige Freihandelsabkommen. Anders als die Briten wollen sich die Europäer damit Zeit lassen und ein mögliches Abkommen nicht überstürzen. Zumal die Briten erwägen, die Steuern in Großbritannien radikal zu senken, um so für Investoren und Unternehmen attraktiv zu bleiben. Sollte das Vereinigte Königreich diesen Steuerwettbewerb wagen, könnten die anderen EU-Staaten gereizt reagieren, glaubt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Briten und Europäer sind künftig Konkurrenten. Das bedeutet eher Konfrontation statt Kooperation.“ Wenn die Briten aus EU-Sicht also falsche Reformen einleiten, könnten die sich revanchieren und das Freihandelsabkommen verzögern. Das wäre allerdings schädlich – für die Briten und die EU.