Europäische Union Wie die Briten den „dirty Brexit“ verhindern wollen

In zwei Jahren muss der Brexit fertig verhandelt sein. Während die Briten auf ein Freihandelsabkommen hoffen, könnte Brüssel eine Rechnung nach London schicken. Was auf Europa zukommt – fünf Fragen und Antworten.

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Der Brexit wird real. Quelle: dpa Picture-Alliance

Ab heute sind Briten und Kontinentaleuropäer Konkurrenten. Denn die britische Premierministerin Theresa May leitet an diesem Mittwoch den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union ein. Alle Seiten betonen zwar, dass sich Europäer und Briten nicht im Streit trennen wollen – doch genau so wird es wohl kommen. Zu unterschiedlich sind die Interessen der beiden Seiten.

Wie verlassen die Briten die Europäische Union?

Theresa May aktiviert Artikel 50 der Europäischen Verträge. Das ist ein formaler Akt, ein Brief an die EU, dass das Land die Staatengemeinschaft verlassen möchte. Laut Vertrag bleiben dafür zwei Jahre. Wenn die Staats- und Regierungschef die Frist einstimmig verlängern, bliebe mehr Zeit.

Doch mit Blick auf die Europawahlen im Frühjahr 2019 wollen die Europäer ein solches Szenario verhindern. Andernfalls würden zunächst britische Abgeordnete ins künftige EU-Parlament einziehen, um es dann einige Monate später wieder zu verlassen. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Briten ab Ende 2019 auf sich alleine gestellt sein werden und dass die EU ab dann ohne das Vereinigte Königreich auskommen muss.

Wie laufen die Verhandlungen?

Eine Scheidungsverhandlung kann bekanntlich friedlich oder schmutzig ablaufen. Oder anders formuliert: Arbeiten Briten und Europäer in den kommenden zwei Jahren konstruktiv zusammen? Oder kommt es zu einem „dirty Brexit“, also einer Scheidung ohne Regeln für die Zeit danach?

Fünf Krisen, die die EU schon überlebt hat

Die Briten sind seit einem knappen halben Jahrhundert EU-Mitglied. Seitdem wurden weitreichende Verträge geschlossen sowie Hunderte von Verordnungen und Richtlinien erlassen. Gelten all diese EU-Regeln künftig noch – beispielsweise im Arbeitnehmer- oder Verbraucherschutz? Was ist mit Umweltnormen oder die Zulassung von Arzneimitteln? EU und Briten teilen rechtliche Vorschriften, die mehr als 100.000 Seiten füllen.

Theresa May will mit einem Gesetz alle EU-Vorschriften, die derzeit im Vereinigten Königreich gelten, in nationales Recht umwandeln. Was heute gilt, soll also auch noch gelten, wenn die Briten die EU verlassen haben. Das soll Rechtssicherheit für Unternehmen schaffen und den Märkten Vertrauen signalisieren.

Was wollen die Briten erreichen?

Der Regierung von Theresa May geht es um zwei Dinge.

Erstens: Der Brexit soll möglichst günstig werden. Die EU könnte Großbritannien bis zu 60 Milliarden Euro in Rechnung stellen, ist aus Brüssel zu hören. Es geht um Verpflichtungen, die das Land als Teil der Gemeinschaft mit eingegangen ist, beispielsweise Pensionsansprüche britischer EU-Beamter. Die Briten senden gemischte Signale. So sagte der britische Außenminister Boris Johnson, sein Land könnte schlichtweg gar nichts zahlen. Zuvor hatte die Premierministerin versöhnliche Töne gewählt und die Geldfrage nicht zum Hauptproblem erklärt.

Die Briten wollen Freihandel mit der EU, die EU bremst

Zweitens: Die Briten wollen weiterhin Handel mit den Europäern treiben und möglichst wenig ökonomische Nachteile erleiden.

Die Norweger beispielsweise sind nicht in der EU, zahlen aber in den EU-Haushalt ein und haben Zugang zum Binnenmarkt. Im Gegenzug müssen sie unter anderem die Personenfreizügigkeit akzeptieren. Die Briten lehnen das ab und wollen die Zuwanderung begrenzen.

Eine Art EU-Mitgliedschaft zweiter Klasse wird es also nicht geben. May hatte dieses Modell in ihre Brexit-Rede Anfang des Jahres ausgeschlossen.

Vielmehr strebt May ein Freihandelsabkommen mit der EU an. Der britische Brexit-Minister David Davis spricht von einem „free-trade, friction-free open agreement“. Doch um das Grundproblem kommen die Briten nicht herum: Je enger sie mit dem europäischen Binnenmarkt verwoben sein wollen, desto mehr Regeln aus Brüssel müssten sie akzeptieren. Und der Faktor Zeit spielt gegen das Vereinigte Königreich, wie Josef Janning vom „European Council on Foreign Relations“ erklärt. „Für die Briten gehört ein mögliches Freihandelsabkommen zu den Brexit-Verhandlungen dazu, für die EU nicht“, sagt der Politikwissenschaftler. In Brüssel rechnen viele damit, dass ein Freihandelsabkommen nicht bis März 2019 fertig verhandelt werden kann.

In der Vergangenheit hatte May gesagt, kein Deal sei besser als ein schlechter Deal. Damit will sie gegenüber ihrer Bevölkerung Stärke demonstrieren. Doch würde dies bedeuten, dass EU und UK künftig dann nach den Regeln der Welthandelsorganisation Geschäfte machen müssten – inklusive von Zöllen und Handelshemmnissen also.

Was wollen die Europäer erreichen?

Die verbleibenden 27 EU-Staaten haben zwei Interessen.

Erstens: Sie wollen die Prinzipien der EU erhalten – allen voran die sogenannten vier Freiheiten, also die Freiheit des Warenverkehrs, der Arbeitskräfte, der Dienstleistungen und des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Hier tritt die Staatengemeinschaft bislang erstaunlich geschlossen auf. Alle Versuche der Briten, einen Keil zwischen die Europäer zu treiben, waren bislang erfolglos.

Zweitens: Sie wollen Europa zukunftsfest machen. Die Idee von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten wird derzeit wieder stärker diskutiert. „Einzelne Staaten müssen jetzt voran gehen oder die Union wickelt sich ab“, sagt EU-Experte Janning. Viele Kontinentaleuropäer wollen den Brexit nun zu einer Chance umdeuten. Die Botschaft: Man muss nicht die EU verlassen, wenn man mit Brüssel nicht einverstanden ist. „Mehr Integration“ kann künftig auch eine Sache von wenigen sein.

Welcher Verhandlungspunkt wird kritisch?

Das künftige Freihandelsabkommen. Anders als die Briten wollen sich die Europäer damit Zeit lassen und ein mögliches Abkommen nicht überstürzen. Zumal die Briten erwägen, die Steuern in Großbritannien radikal zu senken, um so für Investoren und Unternehmen attraktiv zu bleiben. Sollte das Vereinigte Königreich diesen Steuerwettbewerb wagen, könnten die anderen EU-Staaten gereizt reagieren, glaubt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Briten und Europäer sind künftig Konkurrenten. Das bedeutet eher Konfrontation statt Kooperation.“ Wenn die Briten aus EU-Sicht also falsche Reformen einleiten, könnten die sich revanchieren und das Freihandelsabkommen verzögern. Das wäre allerdings schädlich – für die Briten und die EU.

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