Auf den ersten Blick könnte man das heutige Treffen der Währungshüter der Europäischen Zentralbank (EZB) angesichts der Reisekosten der Notenbanker unter der Rubrik „außer Spesen nichts gewesen“ ablegen. Denn viel Neues hatte EZB-Chef Mario Draghi der Öffentlichkeit nicht mitzuteilen. Die Leitzinsen bleiben unverändert und am Anleihekaufprogramm will die EZB auch nichts ändern.
Von April bis Dezember dieses Jahres wird sie die monatlichen Käufe - wie beschlossen - von derzeit 80 auf 60 Milliarden Euro herunterfahren. Sollten sich die ökonomischen Rahmenbedingungen verschlechtern, sei sie bereit, das „Programm im Hinblick auf Umfang und/oder Dauer auszuweiten“, heißt es in der Pressemitteilung. Soweit also nichts Neues aus dem Frankfurter Eurotower.
Dennoch war das heutige Treffen der Währungshüter von enormer Brisanz. Denn es offenbarte schonungslos, dass die EZB eine politisierte und asymmetrische Geldpolitik betreibt, deren Realitätsverweigerung fast schon autistische Züge trägt. War die EZB in den Jahren der Euro-Krise als geldpolitische Feuerwehr schnell mit Zinssenkungen und der Flutung der Finanzmärkte zur Stelle, als es darum ging, die Finanzierungskosten für die Krisenländern nach unten zu drücken und die realwirtschaftliche Bereinigung dort abzuschwächen, so zögert sie nun, die geldpolitischen Schleusen zu schließen, obwohl der sich festigende Aufschwung genau dies erfordert.
Geldpolitik der EZB
Die EZB setzt ihre ultralockere Geldpolitik unverändert fort: Der Leitzins bleibt bei null Prozent. Monatlich kauft die Notenbank weiter Staatsanleihen und andere Wertpapiere im Milliardenumfang. Basierend auf den aktuellen Daten halte der EZB-Rat die expansive Geldpolitik nach wie vor für angemessen, begründete Draghi. Immerhin sagt Europas oberster Währungshüter, dass die Notenbank derzeit keine Notwendigkeit sehe, noch mehr Geld in die Hand zu nehmen - etwa über neue Langfristkredite für Banken.
Die EZB strebt für den Euroraum eine Inflationsrate von knapp unter 2,0 Prozent an - weit genug von der Nulllinie entfernt. Im vergangenen Jahr wuchs die Wirtschaft im gemeinsamen Währungsraum robust um 1,7 Prozent. Im Februar 2017 dann knackte die Teuerung erstmals seit vier Jahren wieder die Marke von zwei Prozent - die von den Währungshütern angepeilten Ziele scheinen erreicht. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den 19 Ländern des gemeinsamen Währungsraumes groß. „Die EZB hat einen Auftrag für den Euroraum insgesamt, und darauf muss sie ihre Geldpolitik ausrichten“, sagte der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing dem „Handelsblatt“.
Hauptgrund für den Anstieg der Inflation ist ein kräftiger Sprung der Energiepreise. Ökonomen rechnen damit, dass der Höhepunkt zunächst erreicht ist. „In den nächsten Monaten dürfte die Inflationshysterie wieder etwas nachlassen“, erklärt die Commerzbank. Wichtig ist für die Währungshüter eine nachhaltige Entwicklung der Verbraucherpreise. Dabei haben sie auch die Kerninflation im Blick - also die Teuerung ohne stark schwankende Energie- und Nahrungsmittelpreise. Im Februar verharrte diese Rate bei vergleichsweise niedrigen 0,9 Prozent.
„Der große Belastungstest steht vermutlich am 7. Mai an, wenn die Stichwahl darüber entscheidet, ob mit Marine Le Pen eine erklärte Euro-Feindin französische Präsidentin wird“, erläutern Ökonomen der Landesbank Helaba. Solange dies nicht geklärt sei, dürfte EZB-Präsident Draghi keine geldpolitische Kursänderung zulassen. Ähnlich sieht das ING-Diba-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Sollte sich die politische Unsicherheit nach den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich legen, könnte die Notenbank im Sommer Hinweise auf einen Ausstieg im Jahr 2018 geben. „Dieses Timing könnte helfen, das EZB-Bashing im beginnenden Wahlkampf in Deutschland zu dämpfen“, sagt Brzeski.
Das dürfte noch eine Weile dauern. Draghi bekräftigte erneut, dass die Zinsen auf absehbare Zeit niedrig bleiben werden - mindestens bis zum Auslaufen der Anleihekäufe Ende 2017. Für Sparer ist das Zinstief bei steigender Inflation bitter. Sparbuch und Co. werfen ohnehin kaum noch etwas ab. Solange die Teuerungsrate nahe der Nulllinie dümpelte, glich sich das in etwa aus. Bei steigenden Verbraucherpreisen bleibt Sparern unter dem Strich aber weniger Geld.
Alle, die Kredite aufnehmen, zum Beispiel Immobilienkäufer. Auch wenn die Zinsen wieder leicht steigen, sind Hypothekenkredite immer noch günstig. Die ultralockere Geldpolitik kommt auch dem deutschen Fiskus zugute, weil er sich günstig verschulden kann. „Wären die Zinsen auf dem Niveau des Jahres 2007 geblieben, hätte der deutsche Staat über die Zeit um rund 250 Milliarden Euro höhere Zinsausgaben stemmen müssen“, rechnete Bundesbank-Präsident Jens Weidmann jüngst in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vor.
Die EZB kann nicht von heute auf morgen einfach den Geldhahn zudrehen. Das würde zu schweren Turbulenzen an den Finanzmärkten führen. Um den Markt vorzubereiten, müssten die Währungshüter das Auslaufen der Wertpapierkäufe einige Monate vorher ankündigen, erläutert Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Friedrich Heinemann, Experte am Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW, mahnt: „Dringend nötig wäre eine klare Perspektive für 2018 mit einer realistischen Strategie zum Auslaufen der Anleihekäufe. Wie bei jedem Ausstieg aus einer Droge ist mit Entzugserscheinungen an den Anleihemärkten zu rechnen, auch Panikattacken sind denkbar.“
Zwar haben die Währungshüter ihre Wachstums- und Inflationsprognosen für dieses und das nächste Jahr nach oben revidiert. Die Abwärtsrisiken für die Konjunktur seien weniger ausgeprägt als zuvor, konzedierte Draghi. Die EZB habe daher auch nicht über Anschlussgeschäfte für die in diesem Monat auslaufenden langfristigen Geldleihgeschäfte für die Geschäftsbanken diskutiert, mit denen die EZB den Finanzinstituten zur Stimulierung der Kreditvergabe bisher günstig Zentralbankgeld geliehen hat.
Doch die Notwendigkeit, die geldpolitischen Zügel zu straffen, sieht die EZB nicht. So habe es beim heutigen Treffen keine Diskussion über eine Ausstiegsstrategie aus der expansiven Geldpolitik gegeben, erklärte Draghi.
Dabei wäre genau dies geboten. Denn die Inflation hat sich längst zurück gemeldet in Europa. In der Eurozone lag die Teuerungsrate im Februar bei 2 Prozent, der Marke also, die die EZB als Preisstabilität definiert. In Deutschland erreichte die Teuerungsrate sogar 2,2 Prozent.
Die EZB definiert in Orwell'scher Neusprechmanier
Nun mag man wie die EZB argumentieren, der jüngste Preisschub sei in erster Linie darauf zurück zu führen, dass die Energiepreise im Vergleich zum niedrigeren Vorjahresniveau gestiegen sind. In den nächsten Monaten dürfte dieser statistische Basiseffekt allmählich wieder verschwinden und die Inflationsrate etwas sinken.
Doch erwartet selbst die EZB, dass die Euro-Inflation im Durchschnitt dieses Jahres bei 1,7 Prozent liegt. In Deutschland, wo sich Konjunktur und Arbeitsmarkt besser entwickeln als im Rest der Eurozone, dürfte die Teuerung noch höher ausfallen.
Da hilft es nichts, auf die Kernrate der Inflation (ohne Energie- und Nahrungsmittelpreise) zu verweisen, wie Draghi und manche Ökonomen es tun. Diese liegt zwar aktuell bei nur 1 Prozent. Doch wen interessiert das schon, wenn er an der Tankstelle und auf dem Wochenmarkt für Benzin und Gemüse kräftiger als bisher zur Kasse gebeten wird? Es ist schon ein starkes Stück, was die EZB da treibt. Erst definiert sie in Orwell`scher Neusprechmanier 2 Prozent Inflation als Preisstabilität um. Ist die Rate dann erreicht, lenkt sie die Diskussion auf die Kernrate, weil diese noch deutlich unter der Marke von zwei Prozent liegt. Da fragt man sich, was die EZB wohl macht, wenn auch die Kernrate die Marke von 2 Prozent erreicht? Noch mehr Güter aus dem Warenkorb herausrechen und eine Kern-Kern-Rate ermitteln, damit sie dann behaupten kann, ihr Ziel immer noch nicht erreicht zu haben?
Wer wissen will, was die EZB wirklich treibt, der konnte es heute von Draghi höchst persönlich erfahren. Auf die Frage von Journalisten nach den Gefahren für den Euro durch den erstarkenden Populismus in Europa antwortete der oberste Währungshüter entlarvend, der Euro sei für Europa „ein Kanal der Solidarität“. Und Solidarität sei in Zeiten wie diesen, in denen die äußeren und inneren Bedrohungen zunähmen, besonders wichtig.
Man könnte Drahgis Aussage auch so formulieren: Der Euro ist längst keine Währung mehr, die ihre Kaufkraft im wahrsten Sinne des Wortes bewahrt, sondern ein Instrument der innereuropäischen Umverteilung von Wohlstand und Vermögen. Auf der Geberseite der Transfermaschine stehen die Nettogläubiger, zuvorderst die Deutschen. Ihr Vermögen schmilzt durch die negativen Realzinsen made in Frankfurt dahin wie Schnee in der Sonne Süditaliens. Auf der Gewinnerseite stehen dagegen die hochverschuldeten Südländer, deren Schulden dank Inflation entwertet werden.
Doch niemand hat die Bürger im Norden Europas gefragt, ob sie zu der von der EZB initiierten Solidaritätsaktion zugunsten der Südländer bereit sind. Ihr Votum dürften sie daher bald nachträglich abgeben: An den Wahlurnen.