Europapolitik im Koalitionsvertrag Deutschlands Interessenverzicht ist fatal für Europa

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Umfangreichere Informationen zum ESM

Sehr viel umfangreicher als die Zahlungen zum gemeinsamen Haushalt sind die Lasten und Risiken durch den Euro-Rettungsschirm ESM. Schon im Sondierungspapier hieß es: "Den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wollen wir zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln, der im Unionsrecht verankert sein sollte." Das interpretierten viele Ökonomen und oppositionelle Politiker als Aufgabe des bisherigen nationalen, also auch deutschen Vetorechts. Immerhin ist im Koalitionsvertrag nun ein kleiner Satz ergänzt worden: "Die Rechte der nationalen Parlamente bleiben davon unberührt." Wie sich allerdings die Verankerung im Unionsrecht und die Rechte der nationalen Parlamente miteinander vereinbaren lassen sollen, ist ziemlich schleierhaft. 

Verdächtig oft ist von Frankreich die Rede: "…in enger Partnerschaft mit Frankreich die Eurozone nachhaltig stärken und reformieren." Was kann das anderes heißen, als dass man den Wünschen Macrons nach weiterer Vergemeinschaftung nationaler Schuldenlasten entgegenkommen will? Tatsächlich verspricht die neue Koalition schon, französischen, beziehungsweise Brüsseler Kommissionswünsche zu erfüllen. Zum Beispiel durch "einen Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten". 

Mehrfach wird "Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten" oder das "Prinzip der wechselseitigen Solidarität" betont. Dass Deutschland zu den Nettozahlern und nicht zu den Empfängern von Solidaritätsleistungen gehört, dürften alle wissen. Warum muss man Solidarität dann derart betonen? Will man den Regierungen in Paris, Rom und Athen, die bei Verhandlungen in Brüssel an höheren deutschen Zahlungen interessiert sind, unbedingt schon im Vorhinein den Rücken stärken? Offensichtlich. Denn wie soll man nun, da man deutsche Solidaritätsleistungen qua Koalitionsvertrag zur deutschen Regierungsräson erklärt, noch aussichtsreich Bedingungen stellen? Offenbar hat man das gar nicht vor.

Zu erklären ist dieser Interessenverzicht aus freien Stücken allenfalls aus einer Mischung von naivem EU-Idealismus und ebenso naivem Negativ-Nationalismus. Dabei wird ignoriert: Deutsches Interesse in der EU bedeutet nicht großdeutschen Herrschaftswillen, sondern Schonung des deutschen Steuerzahlers und Bewahrung der Voraussetzungen für gedeihliches Wirtschaften von Unternehmen in Deutschland. Was die deutsche Regierung leichtfertig aufgibt, ist nicht Nationalismus, sondern das Geld von arbeitenden Menschen in Deutschland. Natürlich hat Deutschland auch ein Interesse daran, dass die Partnerländer nicht in ökonomischer und politischer Instabilität versinken. Beides muss eben gegeneinander abgewogen werden. Doch dazu müssten diese deutschen Interessen von der Regierung zunächst einmal deutlich formuliert werden.

Vermutlich glauben Martin Schulz und andere Anhänger der neuen deutschen Europapolitik, dass das deutsche Interesse ganz und gar identisch sei mit dem "gemeinsamen Interesse" der EU. Doch das ist höchst zweifelhaft. Denn dieser Glaube beruht auf vielleicht gut gemeinten aber letztlich fatalen Fehlschlüssen aus der europäischen Geschichte.

Der materielle Wohlstand, der kulturelle Reichtum und die politische Freiheit, die Europa kennzeichnen, beruhen auf seiner historisch seit dem Untergang des Römischen Reichs bewahrten Vielfalt. Wie Thomas Mayer und Norbert Tofall in einem bemerkenswerten Aufsatz schreiben: "Das Wunder Europa ist … aus Interessenkonflikten hervorgegangen." Es gab eben in Europa nie für längere Zeit eine einzige Machtzentrale, die anderen Nationen fremde Vorstellungen aufzwang – so wie das in asiatischen Imperien der Fall war.

"Dieser Vertrag ist noch scheußlicher als erwartet"
Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall Quelle: Gesamtmetall
Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) Quelle: dpa
Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler Quelle: dapd
Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Quelle: dpa
VDA-Präsident Matthias Wissmann Quelle: dpa
Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Quelle: dpa
Achim Berg, Präsident des Digitalverbands Bitkom Quelle: dpa

Wettbewerb, nicht nur zwischen einzelnen Unternehmen, sondern auch Wettbewerb zwischen verschiedenen, in den jeweiligen Nationalgeschichten wurzelnden Wirtschaftskulturen ist was den Erfolg Europas ausmacht. Für Frankreich beispielsweise hieß das: „Planification“, also der letztlich in seiner langen Geschichte als Zentralstaat wurzelnde Hang zu staatlichen Vorgaben und Interventionen. Deutschlands Wirtschaftskultur war dagegen seit jeher durch das Fehlen einer zentralen staatlichen Lenkung geprägt, allein schon, weil es bis 1871 keinen und danach nur einen föderalen Nationalstaat mit viel geringerer Interventionsneigung gab. Seit 1948 ist der im Ordoliberalismus wurzelnde Verzicht Ludwig Erhards auf Industriepolitik zugunsten konsequenter Ordnungspolitik das deutsche Erfolgsmodell.

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