Europas Zukunft Das Ende des Nationalstaates überdenken

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Nach der Nation könnten Ethnie und Religion zurückkehren

Aber die affektive Kraft dieser Meisterzählung ist offenbar nicht groß genug. Dies gilt schon deshalb, weil die historischen Erfahrungen, die ihr in den einzelnen Nationen entsprechen, einfach zu unterschiedlich sind. Ob ein Land vor 1945 unter deutscher Besatzung stand, oder sich dieser wie England im Kampf entziehen konnte, oder gar mit Deutschland verbündet war, wie Ungarn oder Finnland, lässt den Zweiten Weltkrieg jeweils in einem ganz anderen Licht erscheinen. Vom deutschen Sonderfall, in dem die Erinnerung an eine vollständige militärische Niederlage sich mit der an Verbrechen verbindet, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen, einmal ganz abgesehen.

Es bleibt daher unwahrscheinlich, dass die EU in absehbarer Zeit jenen Zusammenhalt entwickeln wird, den Nationalstaaten zumindest in der Vergangenheit besaßen. Nationen und die Narrative, die sie legitimieren, mögen immer ein Stück weit Konstruktionen sein, aber Bausteine etwa in Form wirklicher historischer Erfahrungen, mögen diese nun mit großen Opfern verbundene Siege oder traumatische politische, wenn nicht sogar moralische Niederlagen sein (auch Niederlagen können Identität stiften), braucht man für solche Konstruktionen eben doch. Die rein voluntaristische Setzung reicht nicht aus, wie man an den mehr oder weniger künstlichen und eben deshalb überaus fragilen Nationalstaaten Afrikas oder des Mittleren Ostens sehen kann.

Diese Einsicht widerspricht natürlich dem reinen Konstruktivismus, der heute vor allem in den Sozial- und Literaturwissenschaften vorherrscht. In diesen Disziplinen würde man die Wirklichkeit gern in dem aufgehen lassen, was man mit Hilfe der eigenen Methoden beliebig entwerfen und wieder dekonstruieren kann. Damit kann man nicht nur sich selbst ein Stück weit schöpferische Fähigkeiten zuschreiben, sondern auch dem Menschen neue Identitäten erzieherisch vermitteln, die den eigenen ideologischen Wertvorstellungen entsprechen. Studien zu Geschlechterrollen, denen, wie man meint, jede natürliche Grundlage fehle, bieten dafür ja hinreichend Beispiele.

Darüber hinaus bleibt aber die Frage, ob wir uns das Ende der Nationalstaaten in einer Epoche, in der diese zumindest in West- und Mitteleuropa ihr Aggressionspotential weitgehend verloren haben, überhaupt wünschen sollten. Zumindest den beiden großen Nationalstaaten in Westeuropa, Großbritannien und Frankreich, gelang es im späten 19. und im 20. Jahrhundert trotz aller inneren Spannungen eine gemeinsame politische Identität für alle Bürger zu schaffen. Diese ließ religiöse und ethnische Unterschiede zwar nicht verschwinden, aber relativierte sie so weit, um ihnen am Ende ihre zerstörerische Brisanz zu nehmen. Das öffentliche Schulwesen, das eine gemeinsame Hochkultur vermittelte oder überhaupt erst schuf, leistete dazu ebenso seinen Beitrag wie die in Frankreich in der Dritten Republik radikal vollzogene Säkularisierung des Staates.

Neun Klischees über die EU – und die Wahrheit dahinter

In postnationalen Zeiten wird es damit womöglich rasch vorbei sein. Ethnische oder religiöse Identitäten werden dann wieder ausschlaggebend sein, so wie sie es bis vor kurzem in Nordirland oder in den 1990er Jahren auch auf dem Balkan waren. In Länder wie Syrien und der Irak, wo die postkolonialen Nationalstaatsbildungen wohl endgültig gescheitert sind, ist das heute wieder der Fall. Ganz ohne ein „Wir“, dem sie sich zurechnen, scheinen die meisten Menschen dann eben doch nicht auszukommen.

Ob man sich eine solche postnationale Welt wirklich wünscht, darüber sollte man wohl doch noch einmal gründlich nachdenken. Denn die Gefahr ist groß, dass sie am Ende nicht von friedlichen Kosmopoliten besiedelt sein wird, die eine unendliche kulturelle Vielfalt gelassen genießen, sondern von religiösen Sektierern und erbitterten Vorkämpfern ethnischer und kultureller Exklusivität, die nun zwar nicht mehr auf nationaler Ebene aber sehr wohl im eigenen Wohnviertel und im persönlichen Umfeld durchgesetzt wird. Wie schon der amerikanische politische Denker Michael Walzer einmal zutreffend festgestellt hat: Wenn Staaten wie bloße Nachbarschaften werden, dann werden Nachbarschaften am Ende womöglich kleine Staaten.

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