Sieben gegen 744. So könnten die Machtverhältnisse im künftigen Europäischen Parlament aussehen. Glaubt man den Umfragen, kann die euro-kritische Alternative für Deutschland mit sieben, vielleicht acht Sitzen im Straßburger Parlament, das Ende Mai neu gewählt wird, rechnen – von insgesamt 751. Alleine Deutschland darf 96 Parlamentarier entsenden, der Großteil wird aus dem Lager der Sozialisten und Konservativen stammen. Die Deutschen werden sich mit Gleichgesinnten aus den anderen 27 EU-Staaten in Fraktionen zusammenschließen. Nur die Euro-Kritiker wollen unter sich bleiben – und drohen so in der Masse unterzugehen.
Dabei gäbe es genug Interessenten: Die Rechtspopulisten um Geert Wilders (PVV) und Marine Le Pen (Front National) suchen noch dringend einen Partner. Drei, maximal vier weitere Parteien wollen mit dem niederländisch-französischen Duo zusammenarbeiten. Für eine Fraktion aber braucht es mindestens 25 Mitglieder aus einem Viertel der Mitgliedsstaaten – also aus mindestens sieben Ländern. Im Gespräch mit WirtschaftsWoche Online lehnte Bernd Lucke, AfD-Bundessprecher und Spitzenkandidat für die Europawahl, eine Zusammenarbeit bereits ab. „Der Front National will unter anderem aus der NATO austreten und wieder Zollschranken in der EU einrichten. Beides ist mit uns nicht zu machen“, so Lucke. Zudem seien Le Pen und Wilders „teils latent, teils offen islamfeindlich“. „Auch damit kommen sie als Partner nicht in Frage.“
Die wichtigsten Köpfe in der AfD
Professor, Gründer des Plenums der Ökonomen
Der 51-Jährige wurde bei Gründung der AfD ihr Sprecher. Der Vater von fünf Kindern lehrt Makroökonomie an der Universität Hamburg. Über 300 Wissenschaftler schlossen sich seinem „Plenum der Ökonomen“ an, das als Netzplattform Wirtschaft erklärt. Nach 33 Jahren trat Lucke Ende 2011 aus der CDU aus. Er trat als Spitzendkandidat der AfD für die Europawahlen an und wechselte im Sommer 2014 nach Brüssel.
Anwältin, Gründerin der Zivilen Koalition
Die Juristin, die zunächst 2012 Mitglied der FDP war, ist seit 2013 Mitglied der AfD. Sie wird dem rechtskonservativen Flügel der Partei zugerechnet. Sie engagiert sich neben der Euro-Rettung vor allem für eine christlich-konservative Familienpolitik. Am 25. Januar 2014 wurde von Storch vom Bundesparteitag der AfD in Aschaffenburg mit 142 von 282 Stimmen auf Platz vier der Liste zur Europawahl gewählt - und zog anschließend ins Europaparlament ein.
Emeritierter Professor für Volkswirtschaft
Im Kampf gegen den Euro hat er die größte Erfahrung: 1998 klagte er gegen dessen Einführung vor dem Bundesverfassungsgericht, 2011 gegen die Rettungsmaßnahmen. Der 72-Jährige, einst Assistent von Alfred Müller-Armack, führt den wissenschaftlichen Beirat der AfD – so etwas hat keine andere Partei.
Promovierte Chemikerin und Unternehmerin
Nach dem Studium gründete die Mutter von vier Kindern 2007 ihr eigenes Chemieunternehmen Purinvent in Leipzig – mit dem Patent auf ein umweltfreundliches Dichtmittel für Reifen. Sie fürchtet, ihre demokratischen Ideale würden „auf einem ideologisierten EU-Altar geopfert“. Seit 2013 ist sie eine von drei Parteisprechern und Vorsitzende der AfD Sachsen
Journalist, Publizist, Altsprachler und Historiker
Bei den bürgerlichen Blättern – 21 Jahre im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen“, sieben Jahre als politischer Chefkorrespondent der „Welt“ – erwarb er sich den Ruf als konservativer Vordenker. Sozial-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik sind auch im Sprecheramt der AfD seine Schwerpunkte.
Beamter, Politiker, Herausgeber, Publizist
Der promovierte Jurist leitete die hessische Staatskanzlei unter CDU-Ministerpräsident Walter Wallmann. Dann Geschäftsführer und Herausgeber der „Märkischen Allgemeinen“ in Potsdam. Führte die brandenburgische AfD bei den Landtagswahlen zu einem überraschend starken Ergebnis und führt nun die Fraktion im Landtag an.
Es ist eine richtige und wichtige Abgrenzung. Nicht nur, dass eine Annäherung an die Rechtsaußen moderate AfD-Sympathisanten von der Wahl abhalten würde, der Parteitag in Erfurt vor eineinhalb Wochen hat einmal mehr deutlich gemacht, dass das Programm der "Alternative" vor EU-Kritik strotzt, aber keinesfalls inhaltliche Schnittmengen mit radikalen und fremdenfeindlichen Parteien hat. Dagegen gibt es gleich eine Fülle von Gemeinsamkeiten mit der britischen Unabhängigkeitspartei UKIP und den Wahren Finnen.
So nahm der britische EU-Gegner und UKIP-Frontmann Nigel Farage, der sich gute Chancen ausrechnet, bei der Wahl zum EU-Parlament stärkste Partei in Großbritannien zu werden, in der vergangenen Woche gerne eine Einladung der Jungen Alternative an, in Köln zu sprechen. Das brachte Parteichef Lucke auf die Palme. „Die AfD missbilligt diese Veranstaltung als ein falsches und irreführendes Signal, da sie mehrfach betont hat, dass sie im Europäischen Parlament keine Zusammenarbeit mit UKIP anstrebt“, erklärte der Frontmann.
Das ist die JA
Die Junge Alternative ist die Jugendorganisation der Alternative für Deutschland und steht jungen Menschen im Alter von 14 bis 35 Jahren offen. Sie wurde im Juni 2013 gegründet und ist in Deutschland inzwischen mit acht Landesverbänden aktiv.
Vorsitzender Philipp Ritz (Nordrhein-Westfalen)
1. Stellvertreter Damian Lohr (Rheinland-Pflaz)
2. Stellvertreter Benjamin Nolte (Bayern)
Die JA versteht sich als programmatischer Innovationsmotor der Alternative für Deutschland. Sie möchte "mutiger in der Formulierung von Thesen" sein als die AfD und Themen bearbeiten, die bei den Euro-Kritikern zu kurz kommen, etwa Bildung.
Der Slogan der Jungen Alternative lautet "Verstand statt Ideologie"
Weder Nigel Farage noch die AfD-Basis schienen diese Einwände in Köln zu stören. Der Brite hatte den Saal im Kölner Maritim-Hotel von der ersten Minute im Griff. „Ich bin es aus Straßburg gewohnt, dass es viel Lärm gibt wenn ich rede“, beginnt Farage, „nur Applaus ist eher selten dabei.“ Es folgt eine einstündige Rede, die als rhetorisches Lehrstück der EU-Häme verwendet werden könnte. Denn anders als viele der radikalen EU-Kritiker schimpft Farage nicht stumpf auf die Brüsseler Bürokraten mit ihren Ölkännchen und Gurkenkrümmungen, sondern nimmt sich die größten Versprechungen der EU vor – und auseinander. Das unbestrittene Ziel von Frieden in Europa? „Das Problem in Europa waren doch nie die Nationalstaaten, es war der Mangel an Demokratie in diesen Staaten.“
Gegenbeispiel gefällig? „Jugoslawien war auch ein Vielvölkerstaat mitten in Europa und wir wissen alle, wie dieses Kapitel geendet ist.“ Die Bürgerbeteiligung über Wahlen: „Die EU ist das einzige demokratische Konstrukt, in dem nur die Bürokratie Gesetze auf den Weg bringen und beschließen kann.“ Es folgt: „Man wählt also genau die Menschen, gegen deren Gesetze man eigentlich ist.“ Der Saal johlt, die Mehrzahl der einigen hundert AfD-Anhänger steht während der Rede immer mal wieder auf, um Farage anzufeuern. Zwanzig Jahre Europa-Bashing, Farages Erfahrung zahlt sich aus.
AfD und UKIP würden von einer Partnerschaft profitieren
„Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass UKIP und die AfD zusammenarbeiten. Sie haben sehr viel gemeinsam“, sagt auch der britische Politikwissenschaftler Nicholas Startin von der University of Bath, der seit Jahren verfolgt, wie sich die britischen Euro-Kritiker zu einer festen Größe im Parteienspektrum entwickelt haben. „Beide wollen die Zuwanderung um qualitative Kriterien erweitern, beide wollen die Rettungsschirme einstampfen, beide wollen die Entscheidungshoheit zurück in die Nationalstaaten holen“, zählt Startin die Schnittmengen auf.
Die zunehmende Macht Brüssels ist in der Tat eine der zentralen Sorgen, die die AfD-Mitglieder umtreibt. Auf dem Parteitag in Erfurt stand bei jedem Einzelthema – sei es bei der Einführung einer Frauenquote, mehr Volksentscheide in den EU-Staaten oder der Klimapolitik – die Frage im Zentrum, ob mit möglichen Beschlüssen nicht der Boden bereitet wird für einen europäischen Superstaat.
Beispiel Ausbau der Rechte des Europäischen Parlaments: Ist es sinnvoll, wie die Parteispitze vorschlug, dass das Europäische Parlament den Kommissionspräsident zu wählen hat – und dieser nicht wie bisher in einem intransparenten Verfahren von den Staats- und Regierungschefs der EU bestimmt wird? Hans-Olaf Henkel findet die Idee gut, der Vorschlag stärke die Demokratie. Parteifreund Joachim Starbatty widerspricht. „Ein vom Parlament gewählter Kommissionspräsident bekommt perspektivisch mehr Macht als bisher. Damit unterstützen wir den Superstaat“, so der berühmte Kläger gegen die Euro-Rettungspolitik. Die Basis stützte Starbatty, der Vorschlag ist vom Tisch. Die Angst vor mehr Macht für Brüssel, vor „mehr Europa“ war schlicht größer als das so oft propagierte Ziel der AfD, mehr Demokratie fördern zu wollen.
Skurriles vom Parteitag
Beim Bundesparteitag der AfD konnten sich die Parteimitglieder einbringen und Vorschläge unterbreiten. Viele machten von dem Recht Gebrauch und reichten Anträge ein. Ein Ergänzungsantrag zur Tagesordnung: "Wir sollten am Ende des Parteitages die Nationalhymne singen."
Die AfD soll sich nach dem Willen der Basis für die Abschaffung der Sommerzeit einsetzen. Die Antragsstellerin begründete, die Zeitumstellung schade der Gesundheit und führe zu vermehrten Unfällen im Straßenverkehr.
Mehrere Mitglieder kritisierten, dass die Einladungen zum Bundesparteitag elektronisch verschickt wurden. Nicht alle hätten schließlich ein eMail-Account, so ein AfD-Mitglied. Dies sei der Grund, warum nur 1054 Mitglieder nach Erfurt gekommen seien.
Von einer Partnerschaft könnten beide profitieren, glaubt Nicholas Startin. Schließlich sind beide Parteien schon heute eine relevante Größe. „UKIP hat die Unterstützung von zwei bis drei bedeutenden britischen Boulevardzeitungen“, unterstreicht der Politikwissenschaftler. Die Rechten seien stets ignoriert worden, nun würden sich Zeitungen wie „Daily Express“ und „Daily Mail“ regelrecht auf Auftritte und Aussagen von Nigel Farage stürzen. Im Windschatten von UKIP könnte auch die AfD noch mehr Aufmerksamkeit bekommen, national und international.
Anders als Lucke & Co. sucht Farage den Schulterschluss mit anderen Gruppierungen. Mit den „Wahren Finnen“, der französischen Kleinpartei “MPF“ und der AfD möchte der Brite gerne zusammenarbeiten. Doch Farage weiß auch, dass er für die Spitze der AfD zumindest momentan nicht infrage kommt. Das liegt vor allem an seiner Extremforderung, Großbritannien solle aus der EU austreten. Und so versucht er den deutschen Eurokritikern eine Brücke zu den britischen EU-Feinden zu bauen. „Die Gruppen im Europäischen Parlament sind eine ziemlich unwichtige Sache“, erläutert Farage, „sie dienen eigentlich nur dazu, an die Fraktionsrechte heranzukommen.“ Zumindest für die Splittergruppen am rechten und linken Rand trifft das tatsächlich zu. Denn hier verbindet die Parteien wenig mehr als die Überzeugung, dass es ohnehin kein richtiges Leben im falschen Parlament geben kann. Sie brauchen die Fraktionen einzig, um Rederechte im Parlament zu erhalten und Sitze in Ausschüssen. Da schaut man nur grob, ob die Ideologie zusammenpasst: Kommunisten spielen nicht mit Piraten, Rechtsradikale nicht mit konservativen EU-Skeptikern. Gerade an der Grenze zwischen gewöhnlichen Liberalen und Christdemokraten und europakritischen Vertretern der gleichen Denkrichtung gibt es aber immer wieder Abgrenzungsschwierigkeiten.
Interne Streitigkeiten nützen der Medienpräsenz
Und so zerbröselte die Fraktion der gemäßigten Europakritiker namens „Europa der Freiheit und Demokratie“ (EFD) auch während der vergangenen Legislaturperiode. Zuerst nahmen einige Mitglieder von Farages UKIP reißaus, weil sie die Fraktion entweder nicht radikal genug oder zu radikal fanden. Auch einige Mitglieder der italienischen „Lega Nord“ verließen die Fraktion, dafür kamen die Abspaltungsfreunde von der belgischen Partei „Vlaams Belang“ hinzu. Heute sagt Farage: „Die bestehende Fraktion wird es so nach der Wahl sicher nicht mehr geben.“ Die Nationalisten von der Lega Nord will er eigentlich loswerden, die AfD gerne aufnehmen.
Vor allem aber spiegeln diese verworrenen Verhältnisse eine europäische Selbstverständlichkeit wider, an die man sich im Populismus-Neuland Deutschland erst gewöhnen muss: die Stabilität im Chaos. Wenn hierzulande über die AfD gesprochen oder geschrieben wird, dann werden Parteiaustritte oder gegenseitige Beschimpfungen als Beleg dafür gedeutet, dass die Partei Probleme habe. Nur wenn sie sich bald auf eine Linie einige, werde sie Erfolg haben. Dabei zeigt der Blick nach Großbritannien, dass es keineswegs so kommen muss. Die Politiker der UKIP streiten sich andauernd, die Drohung mit dem Parteiaustritt ist hier ein so selbstverständliches Stilmittel wie das „vollste Vertrauen“ im deutschen Parteienmainstream. Trotzdem hat die UKIP gute Chancen, bei der Wahl im Mai Tories und Labour-Party zu übertrumpfen. Und wieder liefert Farage eine treffende Analyse, die ziemlich exakt auf die AfD zutrifft: „Die Medien versuchen uns Europaskeptiker auszublenden.“ Deshalb gilt: „Je mehr euch die Medien angreifen, desto besser macht ihr eure Arbeit“, unterstreicht Farage, der bewusst ausblendet, dass sich UKIP (und auch die AfD wird natürlich nicht nur runtergeschrieben) wie bereits erwähnt großer Beliebtheit in den Boulevardzeitungen erfreut. Hinter den Worten des britischen Populisten steckt eine widersprüchliche Dialektik, die aber gerade durch diese Widersprüchlichkeit so machtvoll wird:
Schritt 1: Wir sind diejenigen, die das aussprechen, was verpönt, aber wahr ist.
Schritt 2: Wir streiten uns, die Medien berichten darüber.
Schritt 3: Das zeigt, dass die Medien nur einen Keil zwischen uns treiben wollen.
Schritt 4: Wir halten zusammen.
Auf diese Weise ist es manchen Parteien wie der UKIP oder der FPÖ gelungen, eine populistisches Perpetuum Mobile zu erschaffen, das sich immer wieder dadurch selbst befeuert, dass es aus internen Streitereien neue Kraft gewinnt. Auf diese Weise dürfte der Streit über die Annäherung von AfD und UKIP ebenfalls der AfD nützen. Diejenigen, die eine solche Annäherung befürworten, sehen sich durch Teile der Partei um den NRW-Spitzenmann Marcus Pretzell bestätigt.
Das Europawahl-Programm der Parteien
Die CDU setzt mit dem früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister als deutschem Spitzenkandidaten den Schwerpunkt auf Wirtschaft und Finanzen. Sie will den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM und das Konzept „Hilfe zur Selbsthilfe“ erhalten. Eine Vergemeinschaftung der Schulden wird weiter abgelehnt. „Armutswanderung“ in soziale Sicherungssysteme soll verhindert werden. Bürokratie für kleine und mittlere Unternehmen soll abgebaut und mehr Bürgernähe durch eine Vereinfachung der EU-Gesetzgebung geschaffen werden. Eine Vollmitgliedschaft der Türkei wird abgelehnt.
Die CSU übt inhaltlich wie personell den Spagat zwischen Anti-Brüssel-Propaganda und Bekenntnissen zu Europa: CSU-Vize Peter Gauweiler bedient die Europagegner und soll die AfD neutralisieren, der offizielle Spitzenkandidat Markus Ferber steht für die proeuropäische Seite. Forderungen sind die Rückgabe nationaler Kompetenzen, Bürokratieabbau, die Verkleinerung der Kommission und die Einführung von Volksentscheiden in Deutschland über wichtige Europafragen.
Bei der SPD gibt es mit dem Europaparlaments-Präsidenten Martin Schulz einen zugkräftigen Spitzenmann, er ist auch der europaweite Kandidat der Sozialdemokraten und soll EU-Kommissionspräsident werden. Rechts- wie Linkspopulisten sagt die SPD den Kampf an. Wichtige Ziele sind: strengere Haftungsregeln für Banken, Trennung von Investment- und Geschäftsbankensystem und ein „Finanz-Check“ für alle neuen Finanzprodukte; Entzug der Banklizenz bei Hilfe zum Steuerbetrug; europaweite Mindestlöhne; weniger Bürokratie, mehr Mitsprache und mehr Macht für das Europaparlament.
Die Linke spricht sich für eine grundlegende Neuausrichtung der EU aus. „Europa geht anders. Sozial, friedlich, demokratisch“, heißt ihr Programm. „Wir wollen einen Politikwechsel, damit die EU nicht vornehmlich Eliten an Reichtum und Macht ein Zuhause bietet, sondern sich solidarisch für alle entwickelt.“ Konkret fordert die Partei Mindestlöhne und -renten in der gesamten EU, eine Neuausrichtung der Währungsunion, die Vergesellschaftung privater Großbanken, ein Verbot von Rüstungsexporten sowie die Auflösung der Nato.
Die Grünen stellen den Klima- und Verbraucherschutz, mehr Datensicherheit und Bürgerrechte in den Mittelpunkt. Antieuropäischen Populismus von Rechts und Links konfrontieren sie mit dem „Ziel eines besseren Europas“. Sie wollen die EU weiterentwickeln und die Erweiterungspolitik der EU fortsetzen. Sie wollen ein Europa der erneuerbaren Energien. Der Atomausstieg soll in der gesamten EU vorangetrieben werden. Lebensmittel sollen frei von Gentechnik und Antibiotika sein. EU-weit verpflichtende Herkunftsangaben sollen dabei Transparenz schaffen.
Die FDP will nach dem bitteren Abschied aus dem Bundestag ein kleines Comeback schaffen. In den Umfragen bewegt sich bei den Liberalen aber bislang nichts. Sollte die AfD besser abschneiden, hätte Parteichef Christian Lindner ein Problem. Von einer Schicksalswahl will er aber nichts wissen. Der Hauptgegner sei Schwarz-Rot, nicht die AfD. Inhaltlich tritt die FDP für mehr Bürgerrechte ein, die Vorratsdatenspeicherung soll verhindert werden. Beim Euro soll der Rettungsschirm ESM schrittweise reduziert, zudem ein Austrittsmechanismus für Euro-Länder geschaffen werden.
Die Alternative für Deutschland setzt mit ihrem Slogan „Mut zu D EU tschland“ ein klares Zeichen. Erst geht es um Deutschland, dann um Europa. Ein Austritt aus dem Euro wird für die Krisenländer Südeuropas gefordert. Neue EU-Mitglieder soll es nicht geben, Kompetenzen sollen auf die nationale Ebene zurückverlagert werden. Neben Parteichef Bernd Lucke auf Listenplatz eins soll der frühere Industriepräsident Hans-Olaf Henkel der Partei ein Gesicht geben. Eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremen lehnt die AfD ab.
Die Gegner berufen sich auf die klar ablehnenden Worte von Parteichef Lucke. Und alle zusammen ergötzen sie sich an den vermeintlich feindlichen Medien. So dürfte die Partei in der Lage sein, über längere Zeit auch größere inhaltliche Gräben zwischen eher nationalkonservativ gesinnten und ultraliberalen Kräften innerhalb der Partei zu überbrücken. Denn anders als die gescheiterte deutsche Piratenpartei braucht die AfD keinen gemeinsamen Gestaltungsanspruch, ihr genügt das Feindbild namens „Kartell der Altparteien“. Das wiederum ist so vage, dass es quasi unkapputbar ist.
Wer es richtig gut macht, der kann sogar dann überleben, wenn ihm das Feindbild abhanden kommt. Das zeigt die finnische Partei Perussuomalaiset (Wahre Finnen), die europäische Protestpartei, die der deutschen AfD vielleicht am ähnlichsten ist. Und locker als Vorbild dienen könnte, wie es gelingt, eine im Kern eher moderate Protestpartei im politischen Spektrum zu etablieren. So sagt Jan Sundberg, Politikwissenschaftler von der Uni Helsinki: „Die Wahren Finnen sind in ihrer Mehrzahl nicht besonders radikal und vor allem kaum im ideologischen Spektrum zu verorten.“ Wie bei der AfD findet man bei den Wahren Finnen von der klassischen konservativen Position (keine Homo-Ehe) über die Euro-Kritik (finnisches Geld für finnische Bürger) bis zu einer eher linken Wirtschaftspolitik (Kapital stärker besteuern) Vertreter von fast allen politischen Flügeln, lediglich Ultraliberale treten anders als bei der AfD kaum in Erscheinung. Auf einem Stammtisch der Wahren Finnen - die deutsche Übersetzung unter der man die Partei kennt, ist etwas ungenau beziehungsweise missverständlich; die Partei sieht sich als Sprachrohr der einfachen Finnen, daher passt der Begriff Basisfinnen besser - trifft man Menschen, die vor der Gefahr durch eine Islamisierung warnen und selbst Anhänger der Homo-Ehe sind, und andere, die das Verbot von Landminen aussetzen wollen und zugleich vor den Risiken der Atomkraft warnen. Als die Partei 2009 ins Europaparlament einzog, wollte sie aus dem Euro austreten, inzwischen will sie nur noch „Reformen“.
Die Basisfinnen könnten als Vorbild für die AfD dienen
Parteichef Timo Soini hat es dennoch geschafft, mit diesem Sammelsurium an Widersprüchen dauerhaften Erfolg zu feiern. Vielleicht, weil er selbst so ein lebender Widerspruch ist: Soini selbst ist gläubiger Katholik, damit Angehöriger einer absoluten Minderheit im protestantischen Finnland. Trotzdem hat er es zu einer der Kernforderungen gemacht, das Pflichtfach Schwedisch, ein Zugeständnis an die andere wichtige Minderheit, in finnischen Schulen abzuschaffen. Bei der Europawahl 2009 erreichte die Partei fast 15 Prozent der Stimmen, auch bei der folgenden Präsidentenwahl kam Soini auf knappe zehn Prozent. Wenn im nächsten Jahr Parlamentswahlen sind, wird in Finnland fest damit gerechnet, dass die Partei Teil der Regierungskoalition wird. Anders als die AfD sind die Basisfinnen bereits eine verhältnismäßig alte Partei: 1995 gingen sie aus der Bauernpartei hervor, die bereits in den Siebzigerjahren für Furore gesorgt hatte.
Das ist Timo Soini
Der 52-jährige Timo Soini steht bereits seit Neugründung der Basisfinnen 1995 an ihrer Spitze. Seit 2003 vertritt er die Partei im Parlament.
Der begnadete Redner hatte zuvor an der Universität Helsinki Politikwissenschaften studiert – seine Masterarbeit schrieb er über das Thema Populismus.
Zwischen 2009 und 2011 saß er im Europäischen Parlament, nachdem seine Partei in Finnland einen überragenden Wahlsieg errungen hatte, kehrte er Brüssel jedoch den Rücken und sitzt seitdem wieder im Parlament in Helsinki.
Immer wieder kommt es in der Partei zu ähnlich heftigen Konflikten, wie sie gerade die AfD erlebt, sogar an der Spitze der Partei. So ist der zweite starke Mann in der Parlamentsfraktion der Basisfinnen Jussi Halla-aho, ein Blogger aus der Hauptstadt Helsinki, deutlich radikaler als Parteichef Soini, insbesondere in Fragen der Immigration. Immer wieder leisten er und sein Umfeld sich Ausfälle, die in der finnischen Öffentlichkeit für einen Aufschrei sorgen. So brachte Halla-aho in seinem Blog 2011 den islamischen Propheten Mohammed in den Zusammenhang mit Pädophilie, Somaliern schrieb er einen genetischen Hang zum Vergewaltigen zu. Wenig später stand er wegen Rassendiskriminierung vor Gericht. Parteichef Soini distanzierte sich sofort, wie er bei jeder rechtsradikalen Äußerung eines Parteimitglieds tut. Mit einem Versuch, Halla-Aho aus der Führung der Partei zu drängen aber scheiterte er.
Denn vor Gericht fühlte sich Halla-aho plötzlich missverstanden, der Vergleich sei als satirische Replik auf den Eintrag eines linksliberalen Bloggers zu verstehen. Er kam mit einer Geldstrafe von gut 300 Euro davon. Der Partei schadete die Affäre kein bisschen – im Gegenteil. Aus dem Skandal wurde ein Mosaikstein in der großen Erzählung von der Medienverschwörung gegen die Partei. „Jussi spricht aus, was er denkt und achtet dabei nicht immer genau auf seine Wortwahl“, erklärt der Fraktionsvorsitzende der Partei, Jari Lindström. „Das nutzen manche Politiker und Journalisten aus, um ihm Rassismus zu unterstellen.“
So gelingt der Partei sogar das Unmögliche, sie profitiert von einem schwelenden Führungskonflikt. Gemäßigte Protestwähler stimmen für die Wahren Finnen, weil sich Soini von allen radikalen Umtrieben konsequent fernhält. Sogar in anderen Parteien findet sich kaum einer, der die Basisfinnen als gefährlich ansieht. Es ist nicht anrüchig, für die Partei zu stimmen. Auch die radikalen Kräfte aber fühlen sich von der Partei vertreten. So hat sich Halla-aho von jeder seiner radikalen Positionen später zwar selbst distanziert oder sich sogar entschuldigt. Letztlich steigert dieses öffentliche Widerrufen aber sogar die Wirkung: Die Gemäßigten akzeptieren es als Missverständnis, die Radikalen sehen dahinter Kalkül und betrachten den Flügel der Partei als Brüder im Geiste.
So wird auch jeder AfD-Sympathisant Schnittmengen mit den EU-Kritikern im Norden finden. Eine Kooperation dürfte damit langfristig ebenso "nicht ausgeschlossen" sein (O-Ton Pretzell über ein Bündnis mit UKIP) wie mit den britischen Brüssel-Gegnern. Polit-Kenner Nicholas Startin hält die gemäßigten Rechten damit für die "größere Gefahr für Europa", als die Rechtsextremen um Wilders und Le Pen. "UKIP, AfD & Co. können die EU wirklich herausfordern", sagt Startin. Offen bleibt, ob die AfD-Spitze dies zulässt.